IW-Chef Michael Hüther im Interview: "Eine erneute Lockdown-Verschärfung jetzt ist nur schwer nachzuvollziehen"
Der Ökonom wirft der Politik vor, über Monate keine empirische Grundlage für eine Bekämpfung der Pandemie geschaffen zu haben. Er fordert andere Maßnahmen.
Michael Hüther (58) ist seit 2004 Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW). Der Ökonom ist außerdem Mitglied des Expertenrats Corona der Landesregierung Nordrhein-Westfalen.
Herr Hüther, vor der nächsten Lockdown-Verschärfung wird auch über die Schließung von Industrieanlagen gesprochen. Welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen hätte das?
Die Folgen wären dramatisch. Wir hätten dann eine ähnliche Stillstandsökonomie wie im März. Stattdessen sollten wir dankbar sein, dass die Industrie so stabil ist und uns wirtschaftlich in verhältnismäßig gutem Fahrwasser hält. Vor allem aber wissen wir gar nicht, wofür wir die Industrie stilllegen sollten.
Wie meinen Sie das?
Es gibt keine empirische Daten, dass hier die Probleme liegen. Die Politik hat sich kaum um eine Verbesserung der Datenlage bemüht. Ein Jahr nach Bekanntwerden des Virus wissen wir viel zu wenig über epidemiologische Geschehen. Dieser geringe Kenntnisstand war im März vertretbar, aber jetzt ist er es nicht mehr.
Sie würden sich also gezieltere Maßnahmen wünschen.
Ja, die Daten, die es gibt, zeigen, dass die größten Infektionsherde in Alters- und Pflegeheimen liegen. Hier müsste man entschiedener vorgehen; mehr testen, strengere Besuchsregeln. Hier wäre eine bundesweite Lösung wünschenswert. Aber diese Fragen wurden zu spät thematisiert. Eine Datengrundlage für andere gezielte Maßnahmen als ein allgemeines Herunterfahren wurde gar nicht erst geschaffen. Der Preis dafür ist, dass jetzt das ganze Land im Lockdown ist.
Ist die Debatte nicht offen genug geführt worden?
Es wird immer nur mit Bedrohungsszenarien gearbeitet. Auch jetzt ist eine erneute Verschärfung nur schwer nachzuvollziehen, da die Inzidenzen sowohl bei uns als auch in den Ländern, in denen die Mutation sich ausgebreitet hat, tendenziell zurückgehen. Die bisherigen Maßnahmen folgen der Logik: Wenn man alles schließt, ist die Politik exkulpiert. Sobald sie sich auf gezieltere Maßnahmen festlegen würde, ginge sie hingegen das Risiko ein, dass ihr konkret Folgen zugerechnet werden würden. Außerdem wird gar kein klares Ziel mehr verfolgt: Inzidenz von 50? Das Gesundheitssystem stabil halten? Jede Corona-Erkrankung vermeiden? Im Moment wird die Politik nicht erklärt und nicht begründet. Das finde ich nicht nur als Ökonom, sondern auch als Bürger ziemlich empörend.
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Was halten Sie denn von der Forderung unter dem Hashtag ZeroCovid, also nicht die Inzidenz von 50 anzustreben, sondern jede Ansteckung zu vermeiden?
Das ist ein seltsamer Blick aufs Leben. Warum sollte diese Forderung bei Corona und nicht bei anderen Viruserkrankungen oder anderen Todesursachen wie Krankenhauskeimen gelten? Würden wir unsere Gesellschaft regelmäßig in den Lockdown versetzen, um alle Todesfälle wegen anderer Viren oder Todesursachen zu vermeiden? Es gilt nach dem Grundgesetz die Unantastbarkeit der Menschenwürde, aber das Recht auf ewiges Leben nicht. Ich habe das Gefühl, dass in der gegenwärtigen Debatte primär Corona-Leugner am einen Ende, Lockdown-Fanatiker am anderen Ende durchdringen, wie wir das in einer heute veröffentlichten Stellungnahme des NRW-Corona-Expertenrates formuliert haben.
Aber wäre ein kurzer, aber heftiger Lockdown nicht auch aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll?
Was heißt denn heftig? Eine verschärfte Homeoffice-Pflicht kann man nicht ernst nehmen, solange im Öffentlichen Dienst nicht flächendeckend die Voraussetzungen geschaffen werden, dass dort von zuhause gearbeitet werden kann. Man müsste eher fragen, ob eine Inzidenz von 50 in dieser Jahreszeit und mit unseren kulturellen Gewohnheiten nicht einfach unrealistisch ist und ob unser Gesundheitssystem die Folgen nicht auch mit doppelt so vielen Infektionen bewältigen könnte.
Welche Maßnahmen sollten aus Ihrer Sicht am Dienstag auf keinen Fall beschlossen werden?
Die Schulen sollten keinesfalls über den 1. Februar hinaus geschlossen bleiben. Diesen Verlust an Bildungsgerechtigkeit können wir sonst nicht mehr aufholen. Und Leidtragende sind vor allem die Kinder aus bildungsfernen Haushalten.
Welche Maßnahmen wären stattdessen sinnvoll?
Eine FFP2-Pflicht im öffentlichen Raum ist ein Anfang. Außerdem sollte man flächendeckend Schnelltests anbieten. PCR-Tests kann man selbst machen oder man könnte sie in den Impfzentren durchführen. Es gibt auch andere Testmöglichkeiten, wie etwa Iris-Scans. Ein Düsseldorfer Unternehmen hat hier einen Test entwickelt, der in den USA bereits lizensiert ist. Und natürlich müsste man die App funktionsfähiger machen und die Impfstrategie verbessern. Geschäften, die schlüssige Hygienekonzepte vorlegen, muss zudem eine Perspektive zur Öffnung gegeben werden. Es muss nach vorne gedacht werden, wie wir aus dem Lockdown herauskommen.
Thorsten Mumme