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Eine Impfdosis mit dem Corona-Impfstoff des Mainzer Pharmaunternehmens Biontech und seines US-Partners Pfizer.
© Marwan Naamani/dpa

Vor allem leistungs-und konsumorientierte Menschen: Ein Drittel der Deutschen will sich nicht impfen lassen

Wie kommen Bürger mit Freiheitsbeschränkungen in der Pandemie klar? Sehr unterschiedlich, so eine Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung.

Ein Drittel der Deutschen lehnt die Einschränkung von Freiheitsrechten in der Corona-Pandemie ab – und ebenso viele, nämlich 34 Prozent, wollen sich nach eigenen Angaben auch nicht impfen lassen.

Mit diesem Befund bestätigt eine aktuelle Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung weitgehend Ergebnisse bisheriger Erhebungen. Das Interessante an der neuen Studie ist die Aufschlüsselung nach gesellschaftlichen „Wertemilieus“. Und dabei zeigt sich: Abgelehnt werden Freiheitsbeschränkungen und Impfungen vor allem von leistungs- und konsumorientierten Menschen. Die Quote derer, die Freiheitseinschränkungen und Corona-Impfungen ablehnt, beträgt hier 45 Prozent.

„Die Corona-Pandemie verschärft Wertekonflikte, die bereits vorher schwelten“, fasst Yasemin El-Menouar, Studienautorin und Expertin für gesellschaftlichen Zusammenhalt bei der Bertelsmann-Stiftung, die Ergebnisse zusammen.

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Konkret definiert die Untersuchung sieben solcher zentralen Wertemilieus: die der „kreativen Idealist:innen“, der „bescheidenen Humanist:innen“, der „individualistischen Materialist:innen“, der „unbeschwerten Beziehungsmenschen“, der „sicherheitsorientierten Konservativen“, der „leistungsorientierten Macher:innen“ und der „unkonventionellen Selbstverwirklicher:innen“.

Diese Gruppierungen seien in Deutschland „etwa gleich stark und quer durch die Gesellschaft in allen Alters-, Bildungs- und Einkommensschichten vertreten“, heißt es in der Beschreibung. Und die ihnen zugrunde liegenden Werthaltungen besäßen „sogar eine höhere Erklärungskraft als klassische sozioökonomische Eigenschaften wie Bildung und Einkommen, die oft quer zu den Wertemilieus verlaufen“.

Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl

Die Studie, durchgeführt vom Norstat Institut Ende 2020 mittels Online-Befragung von 1.012 Personen, umreißt das Konfliktfeld bereits im Titel. Er lautet: „Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl“. An den äußersten Polen befinden sich zum einen Humanist:innen, die den Vorrang des Lebensschutzes und die pandemiebedingten Einschränkungen voller Überzeugung mittragen.

Sie werden beschrieben als moderat, zurückhaltend, konventionell und pragmatisch, orientiert an Idealen wie Gleichheit und Pluralität, gerne auch engagiert im Umweltschutz. Das andere Extrem bilden die oben genannten Leistungsorientierten, die Eingriffe in Freiheitsrechte per se als ausgesprochen problematisch empfinden. Ihre Charakterisierung: konservativ, traditionell und optimistisch, vor allem fixiert auf Erfolge, Einfluss und Anerkennung.

Während rund 80 Prozent der Humanist:innen und 73 Prozent der Konservativen zur Bekämpfung der Pandemie die Einschränkung von Freiheitsrechten akzeptieren, lehnt etwa die Hälfte der Leistungsorientierten solche Freiheitseinschränkungen „voll und ganz“ (19 Prozent) oder „eher“ (26 Prozent) ab.

Noch stärker im Widerstand gegen die empfundene Beschneidung individueller Freiheiten ist lediglich die Gruppe der materialistisch Orientierten, denen es vor allem um Autonomie, Konsum und Wohlstand geht. Hier wehrt sich fast jede:r Vierte (24 Prozent) rundweg gegen Einschränkungen durch Pandemie-Maßnahmen, zwölf weitere Prozent neigen zur Ablehnung.

Auch bei der Impffrage geht es auseinander

Parallel dazu sind Wertemilieus, die durch die Lockdowns ihre Freiheitsrechte in Gefahr sehen und dies nicht akzeptieren wollen, auch besonders skeptisch bei der Frage von Impfungen. So gaben 44 Prozent der Leistungsorientierten und 40 Prozent der Materialist:innen an, sich auf keinen Fall gegen Corona impfen lassen zu wollen. In der Gruppe der Humanist:innen dagegen äußerten sich drei Viertel der Befragten positiv zur Möglichkeit von Impfungen.

Bei einer Frage allerdings splittet sich die Phalanx der Impfverweigerer und Kritiker von Freiheitsbeschränkungen deutlich auf. Von den leistungsorientierten Macher:innen gaben sich bei der Befragung immerhin 57 Prozent überzeugt, dass die Coronakrise auch positive Wirkungen haben könne – etwa mit Blick auf Klimaschutz und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Bei den lediglich konsum- und wohlstandsorientierten Materialist:innen erwartet dies nur ein gutes Viertel.

Locker im Lockdown? Von wegen. Ein Drittel der Deutschen lehnt pandemiebedingte Einschränkungen ab.
Locker im Lockdown? Von wegen. Ein Drittel der Deutschen lehnt pandemiebedingte Einschränkungen ab.
© Arne Dedert/dpa

Der Unterschied dürfte damit zusammenhängen, dass erstere den niedrigsten Altersdurchschnitt aller genannten Wertemilieus haben, letztere einen der höchsten. Aber nicht nur. Die sogenannten Macher:innen seien „durchaus am Gemeinwohl orientiert“, heißt es in der Studie. Sie gewichteten aber Werte rund um Leistung, Erfolg und Freiheit sehr hoch.

Wenn dieses Wertemilieu in der aktuellen Debatte nicht angemessen berücksichtigt werde, könne dies „langfristig den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden“, warnt El-Menouar. In dieser Gruppe fänden sich „starke Leistungsträger“, und viele davon sähen „ihre Werteprioritäten in der aktuellen Debatte nicht gebührend widergespiegelt“.

Hoffnung auf Veränderungen durch die Krise

Insgesamt äußerten sich 45 Prozent der Befragten hoffnungsvoll zu möglichen Folgewirkungen der Coronakrise. Am höchsten ist eine Positiv-Erwartung bei den Macher:innen (57 Prozent), den Selbstverwirklicher:innen und den Beziehungsmenschen (jeweils 51 Prozent). Und die Analyse zeigt auch: Viele wollen nicht einfach bloß zurück zur „alten Normalität“.

Mehr als 80 Prozent, also vier von fünf Umfrageteilnehmern, erklärten einen gesellschaftlichen Wandel für wichtig und äußerten die Meinung, die Corona-Pandemie habe das noch klarer sichtbar gemacht. Dieser grundsätzliche Veränderungswunsch zieht sich durch alle Wertemilieus.

Eher positiv fällt denn auch die Bewertung der Studienergebnisse aus. Zwar vermittelten die gegensätzlichen Haltungen „den Eindruck gesellschaftlicher Zerrissenheit“, sagt Stephan Vopel, Leiter des Programms „Lebendige Werte“ der Bertelsmann-Stiftung. Für den richtigen Weg im Umgang mit der Pandemie müssten aber „grundlegende Werte wie Gemeinwohl und Freiheit in einer lebendigen Demokratie sorgsam ausbalanciert werden“.

Strittig, so behauptet er, seien zwischen den Wertemilieus „nicht die Werte als solche, sondern ihre Abwägung in der aktuellen Krise“.

Insofern müsse man in Zeiten von Corona mehr denn je „achten, dass alle großen gesellschaftlichen Gruppen mit ihren Interessen gehört und in ihren Wertvorstellungen gewürdigt werden“, mahnt Studienautorin El-Menouar. Konkret: Die Politik müsse „noch deutlicher machen, dass individuelle Freiheiten und Leistungsbereitschaft für unsere Gesellschaft weiter von entscheidender Bedeutung sind“. Und dass es sich bei den derzeitigen Einschränkungen „um zeitlich klar begrenzte Maßnahmen handelt, die dazu dienen, schnell wieder ein freies und eigenbestimmtes Leben führen zu können“.

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