Bericht zum Stand der Einheit: Abgehängte Landschaften
Bevölkerungsschwund und Überalterung werden zu drängenden Problemen in den Ost-Ländern. SPD-Fraktionsvize Carsten Schneider fordert deutlich mehr Investitionen.
Einen „Albtraum“ nennt Iris Gleicke, die Ost-Beauftragte der Bundesregierung, das Szenario: die Vorstellung von ganzen Regionen, „in denen es weit und breit keinen Lebensmittelladen, keinen Kindergarten, keinen Arzt und keine jungen Leute“ mehr gibt. Was wie ein Schreckensbild aus fernen Welten klingt, wird in manchen Gegenden der ostdeutschen Länder mehr und mehr Wirklichkeit, wie der jüngste Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit offenbart, der am Mittwoch im Bundeskabinett behandelt wurde. „Wir dürfen nicht zulassen, dass ganze Regionen auf Dauer abgehängt werden“, mahnt die südthüringische SPD-Politikerin. Es ist der letzte Bericht, den die scheidende Ost-Beauftragte vorstellt. Die 53-Jährige kandidiert am 24. September nicht mehr für den Bundestag. Ob es in der kommenden Bundesregierung eine Nachfolge geben wird, ist offen. Strukturschwache Regionen gibt es laut Gleicke überall in Deutschland. Aber eben doch mit einem Unterschied: In Ostdeutschland sei das Problem „bis auf wenige Ausnahmen flächendeckend“.
Im 106-Seiten-Bericht heißt es, Bevölkerungsschwund und Überalterung würden zu einem drängenden Problem – wenn auch nicht überall. Es gebe auch die Leuchtturmregionen, betonte Gleicke. Sie fügte hinzu, der Osten sei „weder ödes Jammertal noch blühendes Paradies“. Insgesamt erreiche Ostdeutschland heute fast die Wirtschaftsstärke des EU-Durchschnitts. Aber was sagt schon der Durchschnitt? In Teilen der ostdeutschen Länder stelle die Sicherung der Daseinsvorsorge schon heute eine Herausforderung dar, steht im Bericht. Und: Der Aufholprozess zwischen Ost und West werde „nicht über Nacht“ abgeschlossen sein.
Wenig Einwohner, schwache Finanzen
Die demografischen Veränderungen fielen mancherorts zusammen „mit einer vergleichsweise geringen Siedlungsdichte, wirtschaftlichen Strukturschwächen und Finanzschwächen der Gemeinden“. Der Bevölkerungswandel betreffe die schwächeren Regionen dabei besonders stark: Rückgang und Alterung der Bevölkerung verminderten das wirtschaftliche Wachstumspotenzial. Gefragt sind neue Lösungen, auch jenseits üblicher Förderprogramme. Denn die Dynamik des Prozesses werde im Osten auch in den nächsten Jahren deutlich höher sein als in den westdeutschen Bundesländern, schreibt Gleicke. Zwischen 1990 und 2015 sei die Bevölkerungszahl in den ostdeutschen Ländern (ohne Berlin) um 15 Prozent gesunken, von rund 14,8 auf 12,6 Millionen Einwohner. Den größten Verlust an Einwohnern verzeichnete demnach Sachsen-Anhalt mit knapp 22 Prozent. In Westdeutschland nahm die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um mehr als sieben Prozent zu, ebenso in der Hauptstadt. Die Entwicklung hat sich zuletzt etwas abgeschwächt, was mit der Zuwanderung – auch von Flüchtlingen – aus dem Ausland zu tun hat. „Eine echte demografische Trendwende ist nicht in Sicht“, sagt Gleicke.
Die Ost-Länder hatten dem Bericht zufolge Ende 2015 eine Bevölkerungsdichte von 117 Einwohnern je Quadratkilometer. In Westdeutschland waren es 266, mehr als doppelt so viele. Am dünnsten besiedelt waren Mecklenburg-Vorpommern (69 Einwohner je Quadratkilometer) und Brandenburg (84). Bis 2030 werde die Bevölkerung Ostdeutschlands um weitere 800 000 Menschen beziehungsweise sieben Prozent schrumpfen, heißt es im Einheitsbericht. Für Westdeutschland werde gleichzeitig mit einer Zunahme um etwa eine Million Menschen (zwei Prozent) gerechnet, für die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sogar mit einem Plus um neun Prozent.
"Vorboten einer Entwicklung"
Stimmen, die den Einheitsbericht für überholt halten, hält Carsten Schneider, stellvertretender SPD-Fraktionschef im Bundestag, entgegen: „Ich halte den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit nach wie vor für wichtig, weil er den Blick auf ein Problem richtet, das Deutschland insgesamt betrifft: den wachsenden Stadt-Land-Gegensatz. Und der ist im Osten am sichtbarsten. Die ostdeutschen Länder sind Vorboten einer Entwicklung, die auch den Westen bald noch stärker treffen wird.“ Diesen zunehmenden Unterschieden zwischen städtischen und ländlichen und zwischen starken und schwachen Regionen wolle die SPD aktiv mit einer regionalen Strukturpolitik entgegensteuern, sagte Schneider dem Tagesspiegel. Auch um vor allem die Gesellschaft auf dem Land zu stabilisieren. „Das größte Problem sehe ich allerdings darin, dass dort mit der Abwanderung immer mehr die Köpfe fehlen, die sich der gesellschaftlichen Verantwortung stellen und radikalen Entwicklungen entgegentreten.“ Nur mit einer Politik für gleichwertige Lebensverhältnisse könne man den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sichern. „Dafür wird auch der Bund in der nächsten Wahlperiode die Investitionen deutlich steigern müssen“, sagte Schneider, der ebenfalls aus Thüringen kommt. „Die dafür notwendige Debatte muss jetzt auch im Wahlkampf geführt werden. Ich bin dankbar, dass es mit Manuela Schwesig dafür jetzt eine wichtige Stimme aus dem Osten mehr gibt.“
Die Opposition sieht in Gleickes Bericht einen Offenbarungseid. Linken- Fraktionschef Dietmar Bartsch wetterte gar gegen das „jährlich wiederkehrende Betroffenheitsgeschwafel“. Fakt sei, dass sich auf den Deutschlandkarten mit den wichtigsten Strukturdaten noch immer deutlich die DDR abzeichne. Unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sei Ostdeutschland zu einer „bedauernswert rückständigen Region“ geworden. Die brandenburgische Grünen-Bundestagsabgeordnete Annalena Baerbock nannte es „nur wenig hilfreich, wenn sich Union und SPD Jahr für Jahr berichten lassen, dass die Kluft zwischen den Regionen wächst, um dann ohne Konzept weiter zu wursteln“. (mit epd)
Albert Funk, Matthias Meisner
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