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Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie.
© Kay Nietfeld/dpa

BDI-Chef Dieter Kempf: „Die Zeiten der Verteilung sind vorbei“

BDI-Präsident Dieter Kempf über die Aussichten für die Konjunktur, die Arbeit der großen Koalition und dringend nötige Steuersenkungen. Ein Interview.

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Herr Kempf, der Wirtschaftsliberale Friedrich Merz will Vorsitzender der CDU werden. Halten Sie schon einen Bierdeckel bereit für Ihre Steuererklärung?

Es ist kein Geheimnis, dass ich schon damals nicht viel von der Idee hielt, eine Steuerklärung so zu gestalten, dass sie auf einen Bierdeckel passt. Dazu war und bin ich wohl immer noch zu sehr Steuerberater. Ich glaube aber auch, dass Herr Merz dies nur als Bild verstanden haben wollte. Mir schien es immer wichtiger, zu einer echten elektronisch vorausgefüllten Steuererklärung zumindest für Arbeitnehmereinkünfte zu kommen, die der Steuerpflichtige dann nur noch überprüfen und unterzeichnen muss. Tatsächlich hat das Unternehmen, das ich geführt habe, seinerzeit zum Scherz Bierdeckel mit dem amtlichen Vordruck einer Steuererklärung erstellen lassen. Den letzten, den ich davon noch hatte, habe ich Herrn Merz erst vor ein paar Monaten geschenkt. Und nun können Bierdeckel wieder ihren ursprünglichen Zweck erfüllen: dass man Biergläser auf ihnen abstellt und die entsprechende Anzahl von Strichen macht.

Hat Sie Merz’ Rückkehr in die Politik überrascht?

In der Tat habe ich mich gefragt, was einen im internationalen Geschäftsleben erfolgreichen Manager knapp zehn Jahre nach seinem Abschied aus der Politik zur Rückkehr bewegt.

Spricht seine Wirtschaftskompetenz aus der Sicht des BDI für ihn als CDU-Chef?

Als BDI-Präsident möchte ich der CDU keinen Kandidaten empfehlen. Wirtschaftskompetenz darf allerdings für keinen der Kandidaten ein Manko sein. Wir freuen uns über jeden Politiker, der sich wirtschafts- und steuerpolitisch auskennt, für Regierungshandeln ist dies dringend notwendig. Inakzeptabel wäre es, wenn die Diskussion um die künftige Führung der CDU dringend notwendige politische Entscheidungen in Partei und Regierung für Wochen aufs Eis legen würde.

Schadet das Engagement von Friedrich Merz beim weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock seiner Bewerbung für die Politik?

Wir haben vor ein paar Jahren gesehen, dass die Debatte um sogenannte Heuschrecken zu einer starken Polarisierung in Deutschland geführt hat. Und jetzt tauchen die Ressentiments gegen hierzulande unübliche Investorenmodelle im Zusammenhang mit der Kandidatur von Herrn Merz wieder auf. Ich plädiere dafür, beides nicht miteinander zu vermischen. Wir sollten uns vielmehr etwas anderes überlegen: So wie nicht alle Begleiterscheinungen der Wirtschaftsmodelle aus dem angelsächsischen Raum zu uns passen, so war auch das Modell der Deutschland AG nicht nur schlecht. Wechselseitige Beteiligungen auf der Basis eines starken Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie haben uns durchaus auch krisenfester gemacht. Was wir brauchen, ist eine neue Diskussion darüber, wie Renditestreben und langfristiger wirtschaftlicher Erfolg von Unternehmen sich verbinden lassen mit der gesellschaftlichen Verantwortung, die Wirtschaft hat, und wie sie dieser Verantwortung gerecht werden kann. Eine Diskussion über eine soziale Marktwirtschaft 2.0, wenn Sie so wollen.

Angela Merkel wird fast 18 Jahre CDU-Vorsitzende gewesen sein, wenn sie Anfang Dezember das Amt abgibt. Hat die Partei unter ihrem Vorsitz wirtschaftspolitische Kompetenz eingebüßt?

Ich will das nicht an der Person von Frau Merkel festmachen und auch nicht allein der CDU anlasten. Aber es ist ganz klar, dass der Koalitionsvertrag, den Union und SPD geschlossen haben, mutige Wirtschaftspolitik vermissen lässt. Unsere Unternehmen werden immer ungeduldiger. Darauf sollte die CDU unter einer neuen Führung reagieren und ihren Kurs überdenken.

In welche Richtung?

Ich will nur zwei Dinge benennen. Wir brauchen den Einstieg in die Abschaffung des Solidaritätszuschlages noch in dieser Legislaturperiode und die vollständige Abschaffung spätestens in der kommenden. Und zwar nicht über eine Freigrenze, von der die Unternehmen faktisch ausgenommen sind. Deutschland entwickelt sich vom Hoch- zum Höchststeuerland. Keineswegs darf die Bundesregierung dem Trend tatenlos zusehen. Seit zehn Jahren gab es keine nennenswerte Steuerstrukturreform mit Entlastungen für Unternehmen, stattdessen etliche Mehrbelastungen.

Und zweitens?

Darüber hinaus erwarten wir eine realistische Klimapolitik. Dass wir die Klimaerwärmung ernst nehmen müssen, steht dabei nicht infrage. Der BDI bekennt sich zum Pariser Klimaabkommen. Aber wirklich nachhaltig ist nicht das radikalste Klimaschutzkonzept, sondern eines, das sich gesellschaftlich langfristig wirklich durchhalten und umsetzen lässt. In der aktuellen Debatte kommen elementare Themen wie Versorgungssicherheit mit Energie, Energiepreisentwicklung und Strukturpolitik, etwa die in den Kohleregionen, zu kurz.

Aus Ihrer Unzufriedenheit mit der Arbeit der großen Koalition machen Sie seit Längerem keinen Hehl, Herr Kempf. Wäre es da nicht konsequent, Sie sagten: Schluss mit dieser Koalition, wenn Frau Merkel die CDU-Führung abgibt?

Nein. Was sollen Neuwahlen bringen? Wir sind doch nicht beim Bundesligafußball, wo man den Trainer feuert und die Mannschaft plötzlich wieder Tore schießt. Wir brauchen nicht andere Personen, sondern andere Inhalte. Gerade weil die Volksparteien in der Wählergunst abrutschen, müssten sie sich doch neue Konzepte überlegen. Im Koalitionsvertrag drehen sich die allermeisten Seiten ums Umverteilen. Das hat den Regierungsparteien offensichtlich nichts gebracht. Wohlfahrt nicht anders zu verteilen, sondern zu sichern und sogar zu steigern – das wäre ein Modell, das mehr Erfolg verspricht.

Was sind die wichtigsten Punkte, die die Koalition jetzt anpacken soll?

Zwei habe ich genannt: die Steuerpolitik mit der Abschaffung des Solis und die Klimapolitik. Dazu muss unbedingt eine steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung für alle Unternehmen kommen. Dies ist ein überfälliges Signal, um bei notwendigen Innovationen international wettbewerbsfähig zu bleiben. Genauso wichtig ist die Forschung zur künstlichen Intelligenz (KI). Die 60 Millionen Euro, die die Bundesregierung bisher für KI-Forschung im Jahr ausgibt, reichen hinten und vorne nicht. Die Franzosen investieren viel mehr auf diesem Feld. Deutschland muss da nachlegen. In der KI muss deutsch-französische Kooperation als Keimzelle dienen für einen europäischen Ansatz. Nur so bleiben wir stark im internationalen Wettbewerb mit China und den USA. Das muss das Ziel einer industriepolitischen Strategie der Bundesregierung sein.

Also ein Neustart der großen Koalition?

Wenn Neustart inhaltlich gemeint ist, dann ja. Die große Koalition muss endlich in die Gänge kommen.

Neuwahlen könnten auch politisch eine Aufbruchstimmung erzeugen.

Warum sollten die Parteien bei einer Bundestagswahl die Wähler besser überzeugen als bei den jüngsten Landtagswahlen? Die Wirtschaft, aber auch unsere europäischen Partner brauchen eine entscheidungsstarke deutsche Regierung – jetzt. Wenn durch überhastete Neuwahlen der rechte und der linke Rand gestärkt werden, hilft das nicht weiter. Wir brauchen in diesem Land keinen Nationalismus, wie ihn die AfD praktiziert. Deutschland muss bunt und vielfältig sein. Deshalb muss die Politik mit klugen Regeln den Rahmen setzen, damit Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und nicht primär in die Sozialsysteme möglich ist. Ich erwarte, dass wir so bald wie möglich ein Zuwanderungsgesetz bekommen, das uns dabei hilft, den Mangel an Fachkräften in unseren Unternehmen zu beheben.

Derzeit ist nicht abzusehen, ob sich die Partner der großen Koalition auf einen Fahrplan für die weitere Regierungszeit einigen und sich zusammenraufen. Sollte die Union mit einer Minderheitsregierung weiter regieren, wenn die Koalition mit der SPD platzt?

Ich bin kein Fan einer Minderheitsregierung, aber sie wäre mir lieber als Neuwahlen. Zwar ist der Abstimmungsbedarf einer Minderheitsregierung im Parlament hoch, aber das ist er in der großen Koalition ja jetzt auch schon.

Liegen die Verluste der Volksparteien bei den jüngsten Wahlen auch daran, dass es vielen Menschen derzeit vergleichsweise gut geht und die Wirtschaft bei der Wahlentscheidung daher kaum eine Rolle spielt?

Das stimmt. Da sehe ich nicht nur die Politik in der Pflicht, sondern auch uns. Wir müssen besser erklären, warum eine wettbewerbsfähige Wirtschaft so wichtig ist für Arbeitsplätze und Wohlstand. Und wir müssen Verantwortung übernehmen. In der von uns in diesem Jahr vorgelegten Klimastudie haben wir dazu einen ersten Beitrag geleistet. Dabei geht es nicht nur um die Energiepolitik, sondern auch um Wohnen und den Individualverkehr, was jeden Einzelnen betrifft.

Wie glaubwürdig ist die deutsche Industrie als Klimaschützerin, wenn einer der wichtigsten Industriezweige schmutzige Autos auf die Straße schickt? Die Autohersteller sind doch wohl eher Teil des Problems als der Lösung.

Das sehe ich anders. Wir brauchen die hochinnovative deutsche Autoindustrie, die beispielsweise beim selbstfahrenden Auto rund die Hälfte aller weltweiten Patente angemeldet hat. Und den Antrieb der Zukunft kennt heute auch noch keiner. Das batteriebetriebene Elektrofahrzeug wird es nicht allein sein. Die Hochvoltbatterie eines Kleinwagens kostet je nach Reichweite zwischen 7000 bis 12.000 Euro, und die Verfügbarkeit der Rohstoffe ist längst nicht sicher. Wir müssen an allen Technologien ergebnisoffen forschen. Das sind Wasserstoff, Brennstoffzelle, Batterie, strombasierte Kraftstoffe – oder der moderne Diesel mit sauberer Abgasreinigung. Dieselfahrzeuge spielen bei den Lastwagen sicher noch bis über 2050 hinaus eine wichtige Rolle.

Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen waren die Grünen besonders erfolgreich. Wie erklären Sie das?

Die Grünen haben am intensivsten von allen Parteien auf Zukunftsthemen gesetzt und auf junge, frische Gesichter. In Bayern haben die Grünen erstaunlicherweise sogar mit der Forderung nach einer anderen Schulpolitik punkten können, obwohl die bayerischen Schulen im Pisa-Test eigentlich sehr gut abgeschnitten haben. Die Parteien, die auf soziale Umverteilung gesetzt haben, haben nicht reüssiert.

Zum Jahresanfang hat die FDP die Verhandlungen zur Bildung einer Jamaika-Koalition mit Union und den Grünen platzen lassen. War das ein Fehler?

Ob Christian Lindner einen Fehler gemacht hat, kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht am Verhandlungstisch saß. Allerdings hätten auch wir uns eine Jamaika-Koalition vorstellen können.

Herr Kempf, die Sachverständigen zur Begutachtung der Wirtschaftsentwicklung haben in dieser Woche die Wachstumserwartungen für die deutsche Wirtschaft deutlich nach unten korrigiert. Gehen die goldenen Zeiten dem Ende zu?

Das Wirtschaftswachstum schwächt sich ab, weltweit. In Deutschland sind wir jetzt im neunten Jahr des Aufschwungs. Es ist klar, dass dieser Zyklus eines Tages vorbei sein wird. Offen ist nur, wann. Die Risiken liegen auf der Hand: Die America-first-Politik von US-Präsident Donald Trump, globale Handelskonflikte und der Brexit drohen uns Europäern zu schaden – ganz besonders einer Exportnation wie Deutschland. Umso wichtiger ist jetzt eine nach vorn gerichtete Wirtschafts- und Steuerpolitik. Wir können nicht davon ausgehen, dass in Zukunft unbegrenzt Geld für soziale Wohltaten wie die aktuellen Rentenbeschlüsse oder das Baukindergeld zur Verfügung steht. Die Zeiten der Verteilung sind vorbei. Die Regierung muss mehr Wirtschaft wagen.

Das Gespräch führten Heike Jahberg und Antje Sirleschtov.

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