Ex-Arcandor-Manager schuldig gesprochen: Die wichtigsten Fragen im Fall Middelhoff
Zu hoch geflogen: Der frühere Arcandor-Chef Thomas Middelhoff galt als einer der Top-Manager Deutschlands. Jetzt soll er wegen Untreue für drei Jahre in Haft. Welche Schuld trifft ihn, und welche Folgen hat das Urteil?
Es war der vielleicht spektakulärste Wirtschaftsprozess der vergangenen Jahre. Sein Hauptprotagonist stand in der Öffentlichkeit wie wenige sonst – und er gewährte Einblicke wie wohl keiner zuvor. In die Führungsetage eines Großkonzerns, in den Alltag eines Spitzenmanagers – und in das Gerechtigkeitsempfinden eines Mannes, der Millionen verdiente und früher einmal als genialer Kopf in Deutschland gefeiert wurde. Seit Mai saß Thomas Middelhoff in Essen auf der Anklagebank, als ehemaliger Vorstandsvorsitzender des inzwischen insolventen Arcandor-Konzerns. Es ging um die Unterscheidung von Arbeit und Vergnügen - und um viel Geld. Am Freitag hat das Landgericht Essen Thomas Middelhoff nun zu drei Jahren Haft verurteilt. Der Urteilsspruch lautet auf Untreue und Steuerhinterziehung.
Worum ging es in dem Prozess genau?
Untersucht wurden vornehmlich teure Reisen, die Middelhoff in seiner Zeit als Chef von Arcandor, der vormaligen KarstadtQuelle AG, unternommen hat. 610 Mal orderte er in den Jahren zwischen 2004 und 2009 einen Privatjet – nur gut 200 dieser Flüge zahlte er selbst. Viele andere jedoch, die er Arcandor in Rechnung stellte, hätten ebenfalls keinerlei Nutzen für das Unternehmen gehabt, befanden die Richter – so flog Middelhoff auf Firmenkosten in sein Ferienhaus nach Saint Tropez oder ließ eine Maschine leer aus Köln nach Boston kommen, um drei Stunden früher ins Wochenende starten zu können. In seinem Wohnort Bielefeld ließ er sich morgens vom Hubschrauber abholen, um den dichten Verkehr auf dem Weg zur Konzerzentrale in Essen zu umgehen. Auch eine Festschrift taucht mit 180 000 Euro in den Büchern Arcandors auf, die mit den Geschäften des Unternehmens nichts zu tun hat: Middelhoff ließ sie für seinen Freund Mark Wössner zum 70. Geburtstag anfertigen, der ihn als Bertelsmann-Chef einst sehr gefördert hatte. In drei Fällen sahen die Richter zudem den Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt.
Wie überraschend ist das Urteil?
Das Urteil ist zumindest überraschend hart. Zwar galt als unwahrscheinlich, dass Middelhoff gänzlich freigesprochen würde, wie von seinen Verteidigern gefordert – Juristen waren aber davon ausgegangen, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Mit der Verhängung einer Haftstrafe von drei Jahren bewegten sich die Richter nur knapp unter der Forderung der Staatsanwälte Daniela Friese und Helmut Fuhrmann, die den Ex-Manager für drei Jahre und drei Monate im Gefängnis sehen wollten. Eine Freiheitsstrafe in dieser Höhe darf nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden.
Was sagen die Richter?
Die Richter betonten am Freitag, dass es in dem Prozess nicht darum ging, zu beurteilen, ob Reisekosten in den von Middelhoff verursachten Höhen für den Spitzenmanager eines kriselnden Konzerns angemessen seien. Hinterfragt worden sei ausschließlich der Charakter der Reisen. Gleichzeitig kritisierte der Vorsitzende Richter Jörg Schmitt aber, dass Middelhoff an entscheidenden Stellen im Verfahren nicht ehrlich gewesen sei. Zum Teil habe er dem Gericht „abenteuerliche Erklärungen“ geliefert. Im Verhandlungsverlauf hatte Middelhoff bekräftigt, seine Ehre verteidigen zu wollen. „Ehre hat aber auch viel mit Ehrlichkeit zu tun“, betonte Schmitt. Er habe in seinem Berufsleben selten einen Angeklagten erlebt, der sich „derart viele Widersprüche und Einlassungsbrüche“ geleistet habe.
Was passiert jetzt mit Middelhoff?
Middelhoff darf noch vor dem Bundesgerichtshof in Revision gehen. Das Urteil ist also nicht rechtskräftig. Die Richter erließen am Freitag aber Haftbefehl gegen Thomas Middelhoff, weil sie Fluchtgefahr sahen. Sie begründen die Maßnahme mit fehlenden Sicherheiten. Weder sei nach den sechs Monaten Verhandlung geklärt, wo Middelhoff derzeit seinen Hauptwohnsitz habe, noch gebe es Klarheit über sein Vermögen, dessen Umfang er mutmaßlich zu verschleiern versuchte. In einer nicht-öffentlichen Sitzung wurde im Anschluss an die Verkündung erörtert, ob der Haftbefehl gegen Auflagen wie Kaution oder Abgabe des Reisepasses außer Vollzug gesetzt werden könne. Am Nachmittag gab das Gericht aber bekannt, dass Middelhoff bis zu einer etwaigen weiteren Entscheidung in Untersuchungshaft bleibt. Er sei bereits in eine Justizvollzugsanstalt überführt worden, hieß es.
Trifft Middelhoff die Schuld an der Arcandor-Insolvenz?
Fest steht: Als Middelhoff zum 1. März 2009 als Vorstandschef abgelöst wurde, hinterließ er seinem Nachfolger aus dem Geschäftsjahr 2008 einen Verlust von 746 Millionen Euro. Das ist weit mehr als die Summe von 500 000 Euro, die er insgesamt veruntreut haben soll. Schuld an der Insolvenz ist seine Maßlosigkeit also wohl nicht – umgekehrt wäre er ohne die Insolvenz Arcandors aber wohl auch nicht verurteilt worden. Erst die Insolvenzverwalter brachten die fragwürdigen Abrechnungen zutage. Noch offen ist aber der Ausgang eines weiteren Prozesses, in dem Middelhoff und andere führende Arcandor-Manager wegen Missmanagements zur Verantwortung gezogen werden sollen. So seien Immobilien zum Nachteil des Konzerns verkauft worden, der dann hohe Mieten in den Häusern zahlen musste. Brisant ist dabei: Middelhoff profitierte von diesen Mietverpflichtungen, denn seine Frau und er waren an dem Immobilienfonds beteiligt.
Welche Prozesse laufen noch, und was bedeutet das Urteil für sie?
Auch in anderen Fällen wird Middelhoff die Gerichte weiter beschäftigen. Der Insolvenzverwalter hat Middelhoff verklagt, weil er kurz vor seinem Abgang eine Bonuszahlung in Höhe von 3,4 Millionen Euro einsackte – angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Konzerns völlig unverhältnismäßig, so der Vorwurf. Das Urteil wird Anfang Dezember erwartet. Die Bank Sal. Oppenheim, die nach der Arcandor-Pleite von der Deutschen Bank aufgefangen werden musste, will 78 Millionen Euro von Middelhoff, die sie ihm als Privatkredit gewährte und nicht fristgerecht zurückbekam. Sein einstiger Vermögensberater Josef Esch zog vor Gericht, weil Middelhoff eine Luxus-Yacht samt Bordpersonal bei ihm kaufte und nie bezahlte. Auch der Unternehmer Roland Berger wollte vor Gericht 6,8 Millionen Euro plus Zinsen zurück erstreiten, die ihm seiner Meinung nach aus einem misslungenen gemeinsamen Aktiengeschäft zustehen. Der Fall erregte im Sommer gleich zweimal Aufsehen. Zunächst floh Middelhoff vor Journalisten, die ihn zu der von Berger eingeleiteten Zwangsvollstreckung befragen wollten, über ein Garagendach. Später kam heraus, dass er bei der Auflistung seiner Vermögenswerte eine Luxusuhr unerwähnt ließ, die er im Gerichtssaal trug. Sie wurde ihm vom Arm weggepfändet. Formal darf das aktuelle Urteil die Entscheidung in anderen Verfahren nicht beeinflussen, gleichwohl dürften insbesondere die Ausführungen der Richter über den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen Middelhoffs Glaubwürdigkeit und Ansehen insgesamt schwächen.
Was offenbarte der Prozess noch?
Allerlei unsympathische Details. So verpulverte Middelhoff bei einer einzigen New-York-Reise im November 2008 mehr als 90 000 Euro, strich im selben Monat aber den Angestellten der Warenhauskette Karstadt das Weihnachtsgeld. Die Entscheidung, 4500 Mitarbeiter zu entlassen, fällte er mit dem Vorstand in seiner Villa in Saint Tropez – ein Trip, der das Teamgefühl stärken sollte. Auch dank Yachtausflügen und Power-Shopping.
Es hat den Anschein, als habe Thomas Middelhoff jedes Maß verloren. Als habe er, der während der Verhandlung sehr selbstbewusst auftrat, sich über Gesetze erhaben gefühlt. Seine Verteidiger gleichwohl hatten sich während des Prozesses stets bemüht, seinen Lebensstil als statusgemäß zu rechtfertigen: Dax-Konzernchefs geböten über ganze Flotten von Firmenjets, sagten sie, und ein Manager, der Zeit im Stau vergeude, bedeute für einen Konzern eine viel größere wirtschaftliche Belastung als ein Helikopterflug.
Die Rechtsanwälte zeichneten von Middelhoff das Bild eines rund um die Uhr arbeitenden, aufopferungsvollen Angestellten, in dessen Leben es nur Arbeit und Schlafen gegeben habe, von morgens bis abends, 365 Tage im Jahr.
Die Rechnung geht sogar auf, wenn man berücksichtigt, wie umfangreich Middelhoff offenbar Privates mit Beruflichem verwechselte. Noch in seinem Schlusswort hatte er vergangene Woche beteuert: „Ich kann mir kein Fehlverhalten vorwerfen.“