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Auch wenn die Zahl der Deutschen steigt, die einen Job haben, ist das Vermögen noch immer sehr ungleich verteilt.
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Vermögensverteilung in Deutschland: Die Mittelschicht schrumpft - und kapselt sich ab

Trotz guter Konjunktur sind die Vermögen in Deutschland immer ungleicher verteilt. Das hat Folgen für die Mitte der Gesellschaft: Sie schrumpft – und kapselt sich ab.

Sie prägt die deutsche Gesellschaft. Gilt als Erfolgsmerkmal der sozialen Marktwirtschaft. Die Mittelschicht. Wer wenig hat, will aufsteigen. Dazugehören. Wer es geschafft hat, will seinen Platz nicht verlieren. Doch beides wird schwieriger.

Die Einkommen der Deutschen liegen immer weiter auseinander. Selten war der Unterschied zwischen Arm und Reich so groß wie heute. Das zeigt eine Studie, die die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung kürzlich in Berlin vorgestellt hat. Ihr Urteil: „Für die Mittelschicht ist das Risiko gewachsen, finanziell abzusteigen.“

Nur warum? Schließlich geht es der deutschen Wirtschaft gut. Die Auftragsbücher der Firmen sind voll, die Geschäftsaussichten optimistisch. Um 1,6 Prozent dürfte die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr wachsen, schätzt die Bundesregierung. Trotz der Finanzkrise hat sich die Zahl der Arbeitslosen in den letzten zehn Jahren halbiert. Erst diese Woche meldete die Bundesagentur für Arbeit einen neuen Rekord bei den Erwerbstätigen: 43,5 Millionen Deutsche haben Arbeit – so viele wie noch nie seit der Wiedervereinigung.

Warum die Gesellschaft auseinander driftet

Alles gut, könnte man meinen. Doch es gibt einen Haken: Nur weil mehr Deutsche einen Job haben, heißt das noch nicht, dass es dem Einzelnen besser geht. „Die Zahl derer, die schlecht verdienen, steigt“, sagt Soziologin Cornelia Koppetsch von der TU Darmstadt. Mit anderen Worten: Es haben zwar mehr Menschen einen Job – aber einen, in dem sie nicht viel verdienen. Das spaltet die Gesellschaft. Und es verstärkt eine Entwicklung, die Volkswirte seit Langem beobachten und beklagen: Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher.

Mittlerweile gehört dem reichsten ein Prozent der Bundesbürger ein Drittel des deutschen Vermögens. Das zeigt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Noch extremer wird es, wenn man sich das oberste Promille anschaut – das entspricht etwa 40 000 Haushalten. Zusammen besitzen sie mehr als 17 Prozent des Gesamtvermögens. Die ärmere Hälfte der Deutschen dagegen teilt sich ein Vierzigstel.

In Deutschland sind die Vermögen besonders ungleich verteilt

Zwar besitzen auch die Reichen in Frankreich, Griechenland oder Spanien sehr viel mehr als der Durchschnitt der Bürger. Doch die extreme Diskrepanz ist laut DIW-Analyse ein spezifisch deutsches Phänomen. Nirgendwo in Europa ist die Vermögensungleichheit so hoch wie hier.

Und eine Trendwende ist nicht in Sicht. Obwohl die Löhne in den letzten Jahren gestiegen sind, driften die Einkommen weiter auseinander, wie die Daten der Hans-Böckler-Stiftung zeigen. Zuwächse habe es nur im obersten Lohnbereich gegeben, bei den unteren 40 Prozent waren die verfügbaren Löhne in den letzten 15 Jahren rückläufig. „Die sehr Reichen schweben regelrecht über den konjunkturellen Krisen“, sagt Autorin Dorothee Spannagel. Auch von der guten Wirtschaftsentwicklung profitieren in erster Linie die Wohlhabenden. An denen, die wenig verdienen, geht der Aufschwung vorbei. Der Gini-Koeffizient – das statistische Mittel für Ungleichverteilungen – misst momentan einen Wert, der um 15 Prozent höher ist als Anfang der 90er Jahre.

Die Forscher deuten die Zahlen unterschiedlich

Wenn nun die Gruppe der Armen und die der Reichen immer größer wird, heißt das auch: Die Mitte schrumpft. Wie stark dieser Effekt ausfällt, ist eine Frage der Definition. Deshalb rufen die einen Wissenschaftler fast schon das Ende der deutschen Mittelschicht aus, während andere meinen, es sei alles halb so schlimm. Klar zu sein scheint: Die soziale Mobilität nimmt ab. Es wird schwerer, seinen Status in der Gesellschaft zu verbessern. Nach den Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung ist es 1990 noch rund 35 Prozent der Menschen gelungen, aus der unteren Mittelschicht aufzusteigen. Heute schaffen das nur noch 23 Prozent. Gleichzeitig bleiben mehr Menschen arm: Lebten in den 1980er Jahren rund zwölf Prozent der Deutschen in Armut, sind es heute 16 Prozent.

Selbst wer es bereits geschafft und einen gut bezahlten, unbefristeten Job bekommen hat, kann sich nicht mehr entspannt zurücklehnen. „Die Aufstiegschancen nehmen in der Mittelschicht ab“, sagt Spannagel. „Und die Abstiegsrisiken nehmen zu.“ Es ist leichter, arm als reich zu werden.

Warum sich die Gesellschaft so gewandelt hat

Auch wenn die Zahl der Deutschen steigt, die einen Job haben, ist das Vermögen noch immer sehr ungleich verteilt.
Auch wenn die Zahl der Deutschen steigt, die einen Job haben, ist das Vermögen noch immer sehr ungleich verteilt.
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Zu einem Teil liegt das daran, dass sich der Arbeitsmarkt gewandelt hat. Trotz guter Wirtschaftsaussichten werden die Unternehmer vorsichtig. Ging es ihnen noch vor Jahren vorrangig darum, Mitarbeiter lange zu halten, wollen sie nun in der Lage sein, auf eine Krise schnell reagieren zu können. Viele Menschen arbeiten deshalb gezwungenermaßen in Teilzeit, haben eine befristete Stelle oder mehrere Jobs gleichzeitig. Experten sprechen von einer atypischen Beschäftigung. Die Folgen sind in der Regel eine schlechte Bezahlung. Und eine große Unsicherheit.

Besonders stark trifft das den Nachwuchs: Anders als die Eltern oder Großeltern, die oft noch bis zur Rente bei ein und demselben Unternehmen gearbeitet haben, schlagen sich viele Berufsanfänger heute mehr schlecht als recht durch. Selbst Uni-Absolventen werden nicht selten erst mal nur frei angestellt, machen ein Praktikum nach dem anderen oder bekommen nur befristete Jobs. Zwar ist diese Entwicklung in anderen europäischen Ländern deutlich stärker ausgeprägt als in Deutschland. Doch sorgt der Trend auch hier für Ängste. „Selbst unter denjenigen, die einen festen Job und ein gutes Einkommen haben, steigt die Zahl derer, die sich Sorgen um die Zukunft machen“, sagt Koppetsch.

Wie nimmt man die eigene Stellung in der Gesellschaft wahr?

Dabei geht es auch viel um das Gefühl, um die Wahrnehmung der eigenen Stellung in der Gesellschaft. „Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit ist oft enorm“, sagt Judith Niehues vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. So stellten sich die meisten Menschen die Einkommensentwicklung hierzulande wie eine Pyramide vor: unten eine breite Masse, die wenig verdient. Oben eine kleine Spitze, der es sehr gut geht. Tatsächlich, sagt Niehues, ähnele die Einkommensverteilung aber eher einer Zwiebel: dünn an den Enden, dick in der Mitte. Mit anderen Worten: Auch wenn das Einkommen immer ungleicher verteilt ist, habe Deutschland noch immer eine breite Mittelschicht.

Allerdings ist für die Entwicklung der Gesellschaft die Wahrnehmung mindestens so wichtig wie die Wirklichkeit. Denn der Pessimismus vieler Deutscher hat Konsequenzen. „Es entsteht eine Klubmentalität“, sagt Koppetsch. So steige zum Beispiel die Zahl der Eltern, die den Nachwuchs in einen Elitekindergarten schicken. Die deutsche Mittelschicht, sie kapselt sich ab.

Carla Neuhaus, Marie Rövekamp

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