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Wer gute Leistungen erbringt, wird irgendwann dafür belohnt. Oder?
© dpa

Wirtschaftliche Ungleichheit in Deutschland: Die Mittelschicht muss alles ausbaden

Vom Wirtschaftswachstum kommt bei der Mittelschicht kaum etwas an. Dass die Mitte auf der Stelle tritt, ist auch das Ergebnis politischer Entscheidungen. Entpuppt sich der Glaube daran, dass sich Leistung irgendwann in gesellschaftlichem und finanziellem Aufstieg niederschlägt, als Illusion?

In Deutschland will jeder zur Mitte gehören. „Maß und Mitte“ heißt es ja auch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bundesrepublik als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ beschrieben – als Land, in dem Klassengegensätze durch den Wiederaufbau verwischt wurden. Die Mitte gilt als der Ort, an dem Sicherheit und Beständigkeit zu Hause sind.

Doch das Selbstbild der deutschen Mittelschicht hat Risse bekommen. Zunächst waren es die Hartz-Gesetze, die Abstiegsängste schürten. Vor wenigen Tagen nun stellte die „New York Times“ verwundert fest, dass die Mitte in Deutschland vom Wirtschaftswachstum kaum noch profitiert. Das verbindet sie mit der amerikanischen „Middle Class“. Um 1,4 Prozent war das reale Einkommen der deutschen Mittelschicht demnach gestiegen – nicht in einem Jahr, sondern in zehn Jahren. Andere Länder wie Kanada oder die Niederlande kennen so etwas nicht.

Der deutsche Trend mutet vor allem deshalb merkwürdig an, weil der Durchschnittsbürger lange gefragt zu sein schien. 1998 hatte Gerhard Schröder noch um die „neue Mitte“ gebuhlt. Helmut Kohl sprach von der „Koalition der Mitte“. Wer heute dagegen nach „CDU“ und „Mitte“ im Internet sucht, bekommt keine Bekenntnisse zu bürgerlichen Werten mehr präsentiert, sondern die Seiten eines Berliner Kreisverbandes. Aus dem politischen Diskurs ist der Begriff der „Mitte“ weitgehend verschwunden.

Dabei schienen sich die beiden Volksparteien mit der großen Koalition genau in der Mitte gefunden zu haben. Zu deren Sachwaltern werden sie allein deshalb aber noch nicht. Die Schwächung der Mittelschicht setzt sich eher fort. Wenn zum Beispiel die Sozialkassen – wie jetzt mit der Rentenreform – stärker belastet werden, trifft das weder die Reichsten noch die Ärmsten. Es ist die Mitte, die die versprochenen Leistungen bezahlt.

Thomas Piketty
Thomas Piketty
© AFP

Die „New York Times“ glaubt den Grund für die Stagnation der deutschen Mittelschicht in der Lohnzurückhaltung nach dem Jahr 2000 gefunden zu haben. Sie ist aber auch die Folge einer seltsam unambitionierten wie ungerechten Abgabenpolitik. Am härtesten trifft das die Mittelschicht. Denn merkwürdig ist es schon, dass der prozentual höchste Satz an Steuern und Abgaben für Arbeitnehmer anfällt, die 53.000 Euro im Jahr verdienen. Statistisch ist das genau die Mittelschicht. Nach dieser Schwelle sinkt die relative Belastung wieder ab, weil die Höhe der Sozialabgaben gedeckelt ist. Mit absurden Effekten: Wer mehr verdient, wird im Verhältnis weniger belastet.

Erklärungsbedürftig ist auch, dass Kapitalerträge in Deutschland niedriger besteuert werden als Arbeitseinkommen. Als Finanzminister Wolfgang Schäuble vor wenigen Tagen gefragt wurde, ob die niedrige Pauschalsteuer auf Zinseinkünfte angesichts der Erfolge im Kampf gegen Steueroasen nicht abgeschafft werden sollte, antwortete er: „Darüber kann man diskutieren.“ Vor fast genau einem Jahr hatte er auf die gleiche Frage gesagt: „Darüber kann man reden.“ Dass die Mittelschicht in Deutschland auf der Stelle tritt, ist also kein Naturereignis. Die Entwicklung ist auch das Ergebnis politischer Entscheidungen.

Der Mitte kann man vorwerfen, dass sie ihre Masse nicht ausreichend zur Geltung bringt. Dazu ist sie vielleicht zu stolz: Sie glaubt nach wie vor daran, dass sich Leistung irgendwann auch in gesellschaftlichem und finanziellem Aufstieg niederschlägt. Das kann eine Illusion sein.

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