Martin Winterkorn bei der Versammlung der VW-Aktionäre: Die heile Welt von VW nach der Ära Ferdinand Piëch
VW-Vorstandschef Martin Winterkorn lässt auf der Versammlung der Aktionäre in Hannover Phantomschmerz gar nicht erst aufkommen. Er würdigt den geschassten Patriarchen - und geht zur Tagesordnung über. Fragen und Antworten rund um das Aktionärstreffen.
The Show must go on. Allein schon wegen des Produkts. Denn Autos sind ja keineswegs nur Fahrzeuge. „Heartware und nicht Hardware“, hat einmal ein VW-Vorstand gesagt. Und so laufen an diesem Dienstagmorgen ein paar tausend VW-Eigentümer durch die Messehallen in Hannover, setzen sich in riesige Audis und flache Porsches oder stehen staunend hinter der Absperrung, die einen 1000-PS-Bugatti vor Grabschern schützt.
Die Zeremonienmeister des Konzerns haben von jeder der zwölf Konzernmarken ein paar Modelle aufgestellt, vom VW-up bis zum Scania-Truck. Leistungsschau zum alljährlichen Aktionärstreffen, zu Mittag gibt es Wiener und Brötchen. Das ganze Spektakel ist ein Familientreffen mit vielen kleinen Leuten, nicht wenigen Spinnern, mächtigen Managern und standesbewussten Großaktionären. Erstmals seit mehr als zwei Jahrzehnten fehlt der Patriarch: Ferdinand Piëch.
Wie präsent ist Ferdinand Piëch?
Vor zehn Tagen war der große VW-Stratege, der von 1993 an erst den Vorstand und dann den Aufsichtsrat führte, zurückgetreten. Er musste gehen, nachdem seine Verbalattacke gegen den eigenen Weggefährten, VW-Vorstandschef Martin Winterkorn, den Konzern erschüttert und die meisten Aufsichtsratsmitglieder erzürnt hatte. Die Arbeitnehmervertreter in dem Gremium, die beiden Aufsichtsräte des Landes Niedersachsen sowie Piëchs Verwandte aus der Familie Porsche hatten das Unglaubliche gewagt und dem 78-Jährigen den Weg gewiesen: Raus. Das Maß war voll. Der Alte, wie er über all die Jahre in Wolfsburg genannt wurde, trat gemeinsam mit Ehefrau Ursula zurück. „Wurde Professor Piëch eine Falle gestellt?“, fragte am Dienstag ein Aktionär und gab die Antwort gleich mit. Die Arbeitnehmerbank und die Vertreter Niedersachsens seien von den Porsches instrumentalisiert worden, damit die den eigensinnigen Vetter Ferdinand endlich loswerden.
Verschwörungstheorien blühen immer prächtig bei Hofe. Erst recht nach dem Sturz von überragenden Gestalten. Ulrich Hocker, der als Vertreter der Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz auf keiner Hauptversammlung fehlt, hob das „Autogenie“ Piëch auf eine Stufe mit Henry Ford und Ferdinand Porsche. Und er stellte die Frage, die an diesem Tag in Hannover ständig gestellt wurde: „Warum?“ Und für die keiner einer Antwort hatte. Etwas larmoyant klang ein Vertreter der Schutzgemeinschaft der Kleinanleger: „Weder Piëch noch wir als Aktionäre haben diesen plötzlichen Abgang verdient.“
Dabei seien es doch gute Jahre gewesen. „Als Piëch kam, machten wir Verluste, heute haben wir einen zweistelligen Milliardengewinn.“ Trotz der großen Verdienste will der Aktionärsvertreter aber den Ex-Aufsichtsratsvorsitzenden für das vergangene Geschäftsjahr nicht entlasten, weil Piech „statt einer Klärung unter Männern“ in der Öffentlichkeit gegen Winterkorn gestänkert habe. Das macht man nicht in der Volkswagen-Familie.
Wie schlägt sich Martin Winterkorn?
Gegen neun Uhr ist der Vorstandschef das erste Mal an diesem Tag von ein paar Dutzend Fotografen, servilen VW-Geistern und prominenten Begleitern umgeben: Showtime. Winterkorn und Entourage schlendern von Auto zu Auto, mal setzt er sich hinter ein Lenkrad, mal wird dem Auto die Hand aufgelegt. Zum Begleitschutz gehören Stephan Weil, Ministerpräsident von Niedersachsen, VW-Aufsichtsrat und einer der Revolutionäre beim Sturz Piëchs, und Wolfgang Porsche, der Vetter Piechs und Schlüsselfigur der Revolte. Bevor sich Winterkorn mit Weil vor die Kameras stellt, wirft er noch einen Blick auf den Sprechzettel. Eine Visagistin pudert die Stirn. Dann vor die Kamera, ein paar Floskeln.
Zwei Stunden später vor den Aktionären äußert sich Winterkorn erstmals ausführlich zu dem Mann, der ihn abschießen wollte. Piëch habe die Autoindustrie „in den vergangenen fünf Jahrzehnten geprägt wie kein Zweiter – als Unternehmer, als Ingenieur, als mutiger Visionär.“ Der Konzern habe ihm viel zu verdanken. „Das bleibt. Und vor dieser Lebensleistung haben wir und habe ich großen Respekt.“ Punkt. Winterkorn wartet auf Beifall, aber die Aktionäre zögern, als wüssten sie die Worte nicht so recht zu deuten. Dann kommt der Applaus.
Die spielerische Lockerheit, wie sie zum Beispiel Daimler-Chef Dieter Zetsche nach seinen Jahren bei Chrysler aus den USA mitbrachte, geht Winterkorn ab. Bei rhetorischer Geschmeidigkeit spielt er in derselben Liga wie Piëch. Jedes Wort seines einstündigen Rechenschaftsberichts liest er ab, ohne Gespür für Tempo und Timing. Winterkorn ist halt ein Automobilist, ein Ingenieur, der nun ohne seinen Weggefährten Piëch den 600 000-Mitarbeiter-Konzern führen muss. Seine Rede steht unter dem Motto: „Der Volkswagen-Konzern steht für Substanz und Verlässlichkeit.“ Die Botschaft: Es geht uns gut, ein paar Probleme haben wir erkannt, die Zukunft gehört uns. Und ihm, daran gibt es hier keinen Zweifel, trauen die Aktionäre die Zukunft zu.
Wie geht es Volkswagen?
Gut. Jedes achte Auto, das weltweit auf die Straßen kommt, stammt aus einer der inzwischen mehr als 100 Konzernfabriken. Die Geschäftszahlen 2014 sind herausragend: Erstmals mehr als zehn Millionen Fahrzeuge verkauft, erstmals mehr als 200 Milliarden Euro Umsatz, 12,7 Milliarden Euro operativer Gewinn, 20 Milliarden Euro in der Kasse, und, ganz wichtig für die Aktionäre, die Dividende wird um 20 Prozent erhöht. „Volkswagen hält Wort und liefert zuverlässig die versprochenen Ergebnisse“, sagt Winterkorn.
Besonderen Applaus bekommt er, als er auf die Beschäftigten zu sprechen kommt. „Seit 2007 haben wir mehr als 140 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, davon allein 55 000 hier in Deutschland.“ Und die Schwächen, die Piech mit seiner Kritik gemeint haben könnte? „Lassen Sie sich nicht in die Irre führen“, appelliert er an die Aktionäre, die Berichte über „Baustellen und Probleme“ nicht allzu ernst zu nehmen.
Dann geht der Vorstandschef über die einzelnen Baustellen. Zum Beispiel schwache Rendite der Kernmarke VW. Wenn man den in China erwirtschafteten Gewinn berücksichtigen würde, sähe das Ergebnis viel besser aus. Man werde aber trotzdem bis 2017 fünf Milliarden Euro sparen, um das Renditeziel zu erreichen. Als Sparmaßnahmen nennt er das Streichen von Modellen (2-türige Polo) und Motoren sowie den Bau des Tiguan künftig auch in Mexiko. Für den US-Markt, auf dem VW dramatisch zurückgefallen ist, „haben wir einen dezidierten Masterplan“, unter anderem mit einem überarbeiteten Passat, dem neuen Golf, produziert in Mexiko und mit „der größten SUV-Offensive in der Geschichte unserer Marke“.
Wie sieht die Zukunft aus?
Großes Augenmerk richtet sich zunächst auf die Frage, wer Piëch an der Spitze des Aufsichtsrates folgen wird. Favorit ist Wolfgang Porsche, Sohn von Ferry Porsche, Jahrgang 1943, Außenseiterchancen hat Hans Michael Piëch, Jahrgang 1942, Vetter von Wolfgang und Bruder von Ferdinand Piëch. Vorstandsvorsitzender bleibt mindestens bis 2016 Martin Winterkorn. Und der hat noch einiges vor. Bei den großen Trends – Elektroauto und Digitalisierung – will er den Ton angeben.
Alles in allem investiert der Konzern in den nächsten fünf Jahren mehr als 85 Milliarden Euro, hinzu kommen 22 Milliarden Euro in China, wo VW Marktführer ist. „Mit diesem 107-Milliarden-Programm verbinden wir eine klare Botschaft: Dieser Konzern bietet exzellente Perspektiven“, ruft Winterkorn den VW-Aktionären zu. „Für unsere Kunden und Mitarbeiter, für die nächste Generation bei Volkswagen, für die Gesellschaft, in der wir leben und arbeiten, und für Sie als unsere Aktionäre.“ Und ohne Ferdinand Piëch.