DIW-Ökonom Fratzscher: "Die Erhöhung des Mindestlohns ist ein Placebo"
Marcel Fratzscher, der Chef des DIW Berlin, erwartet auch für 2019 eine robuste Konjunktur. Viele Bürger würden davon aber nicht profitieren. Ein Interview.
Herr Fratzscher, für die deutsche Wirtschaft scheinen die Zeiten des traumhaften Wachstums vorbei zu sein. Droht eine Rezession?
Nein, Deutschland erlebt nach wie vor goldene Jahre. Obwohl die Wachstumszahlen für 2018 insgesamt etwas schwächer sein werden als noch Anfang des Jahres erwartet, hatten wir dennoch übers Jahr gesehen ein ordentliches Wachstum, und 2019 könnte es ähnlich gut werden. Die Arbeitslosenquote wird weiter sinken, die Löhne werden nochmals steigen. Wenn im Ausland nichts schief geht, können wir uns noch auf zwei, drei goldene Jahre freuen. Unsere Wirtschaft hat ein riesiges Potential, wir nutzen unsere Ressourcen bisher nicht aus.
Welche Ressourcen meinen Sie?
Das größte ungenutzte wirtschaftliche Potenzial unseres Landes sind die vielen Frauen, die bisher nicht arbeiten oder mehr arbeiten wollen. Aber der Staat legt ihnen hohe Hürden in den Weg – von einer noch immer unzureichenden Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur bis hin zu einer massiven Diskriminierung im Arbeitsmarkt und im Steuersystem. Viele sind in Teilzeit beschäftigt, dabei sind sie oft besser qualifiziert als Männer. Ich mache mir weniger Sorgen um eine Rezession oder den Zustand der Wirtschaft. Meine große Sorge ist, dass wir die guten Zeiten nicht genutzt haben, um alle Menschen mitzunehmen.
Wer sind die Abgehängten?
Dringenden Handlungsbedarf sehe ich vor allem im Niedriglohnsektor, der in Deutschland außergewöhnlich groß ist. Jeder fünfte Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnbereich, darunter auch viele gut Qualifizierte.
Wen trifft das?
Oft Frauen in Teilzeit, aber auch Menschen in strukturschwachen Regionen. In Deutschland nimmt die regionale Ungleichheit zu. Wir haben nicht nur ein Ost-West-, sondern zunehmend ein Süd-Nord-Gefälle. Der Süden hat viele prosperierende Regionen, dagegen sieht es in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen vielerorts düster aus. Und es trifft auch Zuwanderer, die wir noch besser integrieren können.
Was muss passieren, damit es den Menschen besser geht?
Die Löhne sind auch darum so niedrig, weil es in vielen Niedriglohnbereichen keine ausreichende gewerkschaftliche Vertretung gibt. Man müsste die Sozialpartner, also Gewerkschaften und Arbeitgeber, notfalls zwingen, Tarifverträge abzuschließen. Die Beschäftigten sind bislang zu oft auf sich allein gestellt.
Welche Branchen meinen Sie?
Die Pflege ist ein solcher Bereich. Es wird viel über die Arbeitsbedingungen diskutiert, aber es passiert zu wenig. In Deutschland nehmen die Forderungen zu, dass Leistungsträger entlastet werden sollen. Gemeint sind dann aber meist Menschen mit hohen Einkommen. Dabei sind deren Einkünfte in den vergangenen zehn Jahren massiv gestiegen. Die oberen 20 Prozent haben heute bis zu 30 Prozent mehr Einkommen. Ich finde jedoch, die eigentlichen Leistungsträger sind die Menschen, die für wenig Geld viel leisten – etwa in der Pflege. 89 Prozent der dort Beschäftigten sind Frauen. Für viele Menschen ist es schwer, am wirtschaftlichen Erfolg teilzuhaben. Das Armutsrisiko in Deutschland ist trotz des Wirtschaftsbooms sogar gestiegen.
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Wie groß ist das Risiko?
17 Prozent der Bundesbürger verdienen so wenig, dass sie zum Armutsfall werden könnten. In einigen Gruppen ist das Risiko aber noch deutlich höher. Bei Familien mit Kindern sind es 20 Prozent, bei Alleinerziehenden ist sogar jede zweite von Armut bedroht. Bei solchen Dimensionen geht es nicht um Randgruppen. Oder nehmen Sie Hartz IV. Über sechs Millionen Menschen bekommen Hartz IV, aber nur 20 Prozent davon sind Arbeitslose. Der Verdienst vieler reicht nicht, um über die Runden zu kommen. Das ist sozialer Sprengstoff. Der Erfolg der AfD ist ein Warnschuss.
Sollte man den Mindestlohn stärker erhöhen? Er wird ja 2019 von 8,84 Euro auf 9,19 Euro angehoben und auf 9,35 Euro im Jahr 2020.
Die Erhöhung des Mindestlohns ist ein Placebo. Auch mit 9,35 Euro werden Sie später keine Rente haben, von der Sie leben können und bei der der Staat nicht Geld zuschießen muss. Man bekämpft Symptome, aber nicht die Ursachen. Und die Ursache ist, dass sich für viel zu viele Menschen in Deutschland Arbeit zu wenig lohnt, es ihnen nicht möglich ist, von der eigenen Hände Arbeit selbstbestimmt ihr Leben zu gestalten.
Wer ist in der Pflicht, das zu ändern - neben den Gewerkschaften?
Die Politik hat die oberste Verantwortung. Sie muss beispielsweise dafür sorgen, dass Bildungschancen gleicher verteilt sind, alle eine ausreichende Qualifizierung erhalten und Frauen mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt bekommen.
Aber Familienministerin Franziska Giffey hat doch jetzt das „Gute-Kita“-Gesetz auf den Weg gebracht.
Ich hätte mir mehr gewünscht. Etwa, dass man mehr Wert auf Qualität legt, stärkere Vorgaben macht, dass man schneller handelt und mehr Ganztagskita- oder -schulplätze schafft. Aber auch das Ehegattensplitting ist ein Thema. Durch eine gerechtere steuerliche Verteilung könnte man die Arbeit für Frauen attraktiver machen. Stattdessen wird über den Soli geredet.
Aber der Abbau des Solidaritätszuschlags entlastet doch alle Steuerzahler.
Nein, das ist ein Mythos – von der Abschaffung profitiert fast ausschließlich die obere Hälfte, und die Hälfte der Entlastung kommt den oberen zehn Prozent zugute. Zudem ist die Reform teuer. Mit den 19 Milliarden Euro, die das kostet, sind die Überschüsse des Bundes aufgezehrt. Das Ehegattensplitting in ein Familiensplitting zu überführen, wäre viel vordringlicher. Wir brauchen außerdem eine bessere Integration von Zuwanderern und eine bessere Qualifizierung der jungen Leute. Es gehen noch immer viel zu viele Menschen ohne Abschluss von der Schule ab. Sie sehen, es gäbe viele Baustellen für die Politik. Aber die Politik nutzt die goldenen Jahre nicht genug, um die Teilhabe der Menschen zu verbessern. Stattdessen verteilt sie Wahlgeschenke mit dem Soli oder der Rente.
Aber nicht nur Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, haben Probleme. Auch Bundesbürger mit gutem Einkommen haben Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen – etwa wenn sie das Pech haben, sich in Berlin eine neue Wohnung suchen zu müssen. Und das Geld auf dem Sparbuch wirft auch nichts ab.
Die Mittelschicht, das Rückgrat unserer Gesellschaft, schrumpft. Einige schaffen den Sprung nach oben, aber viele rutschen nach unten ab. Die Polarisierung nimmt zu. Die steigenden Wohnkosten in den Städten sind ein Riesenproblem, aber auch Beweis dafür, dass die Politik schon seit 20, 30 Jahren ihrer Fürsorgepflicht nicht nachgekommen ist. Der soziale Wohnungsbau ist zurückgefahren worden, staatliche Wohnungen wurden privatisiert. Das war ein Riesenfehler.
Jetzt soll die verschärfte Mietpreisbremse die Mietenexplosion stoppen (Lesen Sie dazu mehr im Tagesspiegel Immobilien-Rechercheprojekt "Wem gehört Berlin?")
Die Mietpreisbremse reicht doch hinten und vorne nicht. Das einzige Mittel gegen steigende Mieten ist ein ausreichendes Angebot an bezahlbaren Wohnungen. Außerdem brauchen wir, um die Menschen im Alter abzusichern, eine klügere Vorsorgepolitik. Wir brauchen eine bessere Balance aus Rente, privater und betrieblicher Vorsorge. Die Vermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt.
Wie zeigt sich das?
40 Prozent der Bundesbürger haben praktisch kein Erspartes. Das wird im Alter zum Problem, aber auch schon vorher. Wenn die Immobilienpreise weiter steigen, müssen diese Menschen ihren Lebensstandard einschränken, weil sie aus dem Ersparten nichts zubuttern können. Die Bundesbürger geben rund 30 Prozent ihres monatlichen Einkommens für das Wohnen aus. Gerade für die Mittelschicht sind die Wohnkosten ein großes Thema.
Wer sind die Gewinner der vergangenen Jahre? Immobilieneigentümer, Aktionäre?
Glück ist mittlerweile wichtiger als die eigener Hände Arbeit. 55 Prozent aller privaten Vermögen wurden geerbt, nur 45 Prozent wurden mit eigener Arbeit aufgebaut. Das wird sich nochmals deutlich verschärfen. Viele Menschen, die in der Nachkriegsgeneration Vermögen aufgebaut haben, geben das jetzt weiter.
Wer sind die wohlhabenden Deutschen?
Vor allem Erben, Immobilieneigentümer und Aktienbesitzer, die sich über gute Renditen freuen können. Bei den Arbeitseinkommen ist die Schere in den vergangenen 20 Jahren aufgegangen.
Sollte man die Erbschaftsteuer erhöhen?
Die Mehrheit der Deutschen, selbst diejenigen, die nichts erben, will keine oder keine hohe Erbschaftsteuer. Es wäre schon viel erreicht, wenn man alle Erbschaften gleich behandeln und die Ausnahmen streichen würde. Große Vermögen über zehn Millionen Euro bringen wegen der vielen steuerlichen Privilegien im Schnitt gerade einmal ein Prozent Erbschaftsteuer, wer nicht mehr als 500000 Euro erbt, zahlt dagegen im Schnitt zehn Prozent. Ich möchte aber vor einer Neiddebatte warnen.
Warum?
Ich finde, es geht nicht darum, den oberen Zehntausend etwas wegzunehmen, sondern die unteren 40 Prozent, die nichts gespart haben, zu stärken.
Wie soll das gehen?
Ein Erbe erleichtert den Start ins Familien- oder Berufsleben, ich meine, alle Menschen sollten solche Startchancen bekommen. Jeder sollte ein Erbe bekommen. Wir vom DIW Berlin schlagen ein sogenanntes Lebenschancenerbe vor. Jeder junge Mensch sollte vom Staat 30000 Euro bekommen, um damit etwa eine Weiterbildung zu bezahlen oder eine komplett neue Berufsausbildung. Oder sich selbstständig zu machen. Oder damit eine Auszeit zu bezahlen. Wir sollten keine Verteilungskämpfe ausfechten, sondern Menschen bessere Chancen eröffnen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es sich wünschen.
Wie sehen Ihre eigenen Berufspläne aus? Wollen Sie Jens Weidmann als Chef der Bundesbank ablösen?
Ich habe keine solchen Pläne und fühle mich in meiner Rolle als Präsident des DIW Berlin, als Wissenschaftler und kritische Stimme in den gesellschaftliche Debatten, sehr wohl.
Das Interview führte Heike Jahberg
ZUR PERSON: Marcel Fratzscher (47) gehört zu den einflussreichsten deutschen Ökonomen. Er ist seit 2013 Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW-Berlin) und ist Professor für Makroökonomie an der Berliner Humboldt-Uni. Unter dem damaligen Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) leitete Fratzscher die Kommission zur Verbesserung der Infrastruktur in Deutschland. Doch Fratzscher ist auch jemand, der über den eigenen Tellerrand hinaus schaut. Während der Asienkrise Ende der 1990er Jahre beriet der gebürtige Bonner die indonesische Regierung, 2001 wechselte er zur Europäischen Zentralbank.
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