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Ausblick nach unten: Ein unwohles Gefühl
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Gefühlte Wahrheit: Die Angst vor dem sozialen Abstieg

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sagt: Die Sorgen der Menschen in Deutschland nehmen zu. Daten und Fakten widersprechen ihm. Eine Analyse.

Da sei der 55-Jährige, der Angst hat, seinen Job zu verlieren, weil er keinen neuen mehr bekommen wird. Die Eltern, die beide arbeiten gehen und trotzdem fürchten müssen, die Miete im beliebten Kiez nicht mehr lange zahlen zu können. Und der Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens, der nachts wach liege, aus Sorge, wegen der großen Ketten und Online-Shops bald schließen zu müssen. Seit der Bekanntgabe seiner Kanzlerkandidatur Ende Januar nannte Martin Schulz (SPD) diese Beispiele, um zu zeigen: In unserem wohlhabenden Land läuft etwas verkehrt. Und das, so sein Versprechen, werde er ändern.

Als die Umfragewerte seiner Partei danach auf mehr als 30 Prozent anstiegen und Schulz als Robin Hood betitelt wurde, schien es, als habe er die Sorgen der Menschen verstanden. Einen Nerv getroffen. Zumindest einen Monat lang. Ab Februar wurde Schulz immer öfter kritisiert. Die SPD rutschte wieder ab, verlor erst im Saarland, dann in Schleswig-Holstein und vor einer Woche selbst in Nordrhein-Westfalen, dem Kernland der SPD.

Studie: Die Deutschen werden sorgloser

Aus Sicht des Leipziger Soziologen Holger Lengfeld ist die Ernüchterung um Schulz keine Überraschung. Er meint: Mit der Angst vor dem sozialen Abstieg „bauscht Schulz etwas auf, das nicht existiert“. Seit 1984 befrage das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die Bundesbürger jährlich nach ihren Sorgen, speziell was den Verlust ihrer Arbeit angeht. Im Rückblick, so Lengfeld, hätten damals rund 40 Prozent der westdeutschen Erwerbstätigen Angst davor gehabt. 1991, kurz nach der Wiedervereinigung, waren es 41 Prozent.

Von 1990 bis 2005 sei der Anteil in Gesamtdeutschland dann auf 64 Prozent angestiegen. Die Ostdeutschen seien vor allem wegen des Zusammenbruchs der DDR verunsichert gewesen; die Westdeutschen hätten die Folgen der Globalisierung immer deutlicher gespürt. Als Reaktion auf den zunehmenden weltweiten Wettbewerb flexibilisierten Politik und Unternehmen den Arbeitsmarkt. Für Arbeitnehmer bedeutete das befristete Verträge, Teilzeitarbeit, erzwungene Selbstständigkeit.

2006 stellt anscheinend eine Zäsur dar. Seitdem sei die Angst vor dem Jobverlust kontinuierlich gesunken. Bis heute. Nach vorläufigen Berechnungen hatten im vergangenen Jahr 39 Prozent Sorge, arbeitslos zu werden. „Das sind zwar immer noch viele“, sagt Lengfeld, „aber die Deutschen sind an sich eher ängstlich und haben ein stark ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis.“ Schulz’ These, „die Abstiegsängste nehmen zu“, stimme trotzdem nicht.

Grund sei der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre. Seit 2005 ist die Zahl der Arbeitslosen immer weiter gesunken. Zur Zeit liegt die Quote bei 5,8 Prozent – wenngleich sie höher ausfällt, wenn man jene miteinbezieht, die in der Statistik wegen einer Weiterbildung oder Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt fehlen. Die Unternehmen melden zudem Exportrekorde und suchen so dringend Fachkräfte, dass Bewerbern vermittelt wird: Nicht wir suchen euch aus, nein, ihr habt die Wahl.

Anteil der Geringverdiener bleibt gleich

Eine Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln hat einen ähnlichen Tenor wie der Soziologe Lengfeld. Darin heißt es: Im Bundestagswahlkampf würden die Themen Gerechtigkeit und Verteilung wieder stärker in den Blick geraten, häufig gehe es dabei um die Sorge vor sozialem Abstieg und Armut. Doch entgegen vieler Erwartungen zeige die Untersuchung, dass die Zahl der Geringverdiener seit Jahren stabil sei und nicht größer werden würde. Jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland arbeite derzeit im Niedriglohnsektor. Ein Wert, der sich seit 2007 kaum verändert habe. Er verdient höchstens zwei Drittel des durchschnittlichen Bruttostundenlohns, was weniger als zehn Euro sind.

Und: Schafften 2014, dem zuletzt gemessenen Jahr, rund 27 Prozent der Geringverdiener den Sprung in eine höhere Gehaltsklasse, rutschten nur 5,5 Prozent aus der Gruppe der Normalverdiener in den Niedriglohnsektor ab. Diese Werte seien laut der Studie ebenfalls die gleichen wie 2007. Seitdem keine Bewegung. Zwar zieht IW-Experte Jörg Schmidt daraus den Schluss, „eine generell höhere Abstiegsgefahr gibt es nicht“ – es gibt aber auch keine höheren Aufstiegschancen. Trotz der guten Wirtschaftsnachrichten.

Der Position von Schulz widerspricht auch ein aktueller Bericht des Münchener Ifo-Instituts über die Lebenszufriedenheit der Deutschen, die sich genauso entwickelt hat wie die Angst vor dem Abstieg. Von der Wiedervereinigung bis 2005 sei sie gesunken, seitdem stetig gestiegen. Die Deutschen seien „alles in allem so zufrieden wie noch nie in der jüngeren Geschichte“. Die Arbeit sei dabei der entscheidende Faktor: Wer sie hat, sei glücklicher als der, der sie nicht hat. Sollen die Befragten sagen, wie sie ihre Zukunft in fünf Jahren sehen, dann schätzen sie ihr Leben noch positiver ein. Was „vor dem Hintergrund öffentlicher Debatten überraschen“ sollte.

Martin Schulz bekommt für seine Thesen nicht mehr nur Beifall.Foto: Kay Nietfeld/ dpa
Martin Schulz bekommt für seine Thesen nicht mehr nur Beifall.Foto: Kay Nietfeld/ dpa
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Wenn jemand fällt, dann ziemlich hart

In einem kürzlich erschienenen „Zeit“-Interview wurde Schulz gefragt, wieso er an seinem Versprechen von einem sozial gerechteren Deutschland, in dem die Menschen weniger Existenzängste haben müssten, festhalte. Dem Land gehe es doch ökonomisch gut, die Mehrheit der Menschen sei zufrieden. Darauf entgegnete Schulz: „Das ist ja kein Widerspruch. Für das Lebensgefühl des Einzelnen spielt eine abstrakte Statistik nur eine untergeordnete Rolle.“

Einen verstandenen Wähler dürfte er damit in Nordrhein-Westfalen gewonnen haben: Ernst K. erzählt, er wird in diesem Jahr 60, ist gelernter Grafiker und lebt in der Nähe von Düsseldorf. Als er und seine Frau vor 15 Jahren ihr Kind bekamen, zogen sie voller Vorfreude um. In eine größere Wohnung ohne Schimmel an den Wänden. Doch kurz danach verlor Ernst K. seinen Job. Er nahm einen schlechter bezahlten an, in der Gastronomie. „Aber wir konnten die Miete trotzdem nicht mehr zahlen“, sagt er. Plötzlich wurde er zum Aufstocker. Brauchte Hilfe vom Staat.

Würden Kritiker der Hartz-IV-Reformen dieses Beispiel lesen, würden sie sich bestätigt fühlen. Vielleicht ist der Fall in Deutschland nicht mehr so wahrscheinlich, wie er mal war, nicht so dramatisch, wie Schulz ihn beschreibt, aber wenn jemand fällt, dann hart. Seit der Agenda 2010 wird das Arbeitslosengeld in der Regel nur noch ein Jahr gezahlt. Danach bekommt man Hartz IV. Nur zwölf Monate Arbeitslosigkeit trennen einen durchschnittlichen Arbeitnehmer von einem Leben am Existenzminimum. Kanzlerkandidat Schulz kündigte an, diesen „Fehler“ der Reformen zu korrigieren. Wer eine Qualifizierungsmaßnahme macht, soll seinem Konzept nach länger Arbeitslosengeld I bekommen. Vor allem Ältere sollen davon profitieren. Da seien die „Ängste besonders groß“, meint Schulz, und wenn jemand mit 50 Jahren nach 15 Monaten Hartz IV erhalte, „dann gehe das an die Existenz“.

Gefühle sind oft stärker als Fakten

Zwar entkräftigen die genannten Experten die Positionen von Schulz, aber man kann die Ergebnisse ihrer Studien auch anders interpretieren: Vier von zehn Deutschen haben Angst, ihren Job zu verlieren. Obwohl sie jeden Monat lesen, dass die Arbeitslosenquote erneut gesunken ist und Unternehmen nach Mitarbeitern suchen, statt sie in Massen zu entlassen. Rund jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland arbeitet im Niedriglohnsektor. Wie der Deutsche Gewerkschaftsbund schreibt, bekommen also 7,65 Millionen Menschen sehr geringe Löhne. Können davon kaum leben, werden später nur eine mickrige Rente bekommen.

Der Soziologe Oliver Nachtwey hat ein Buch über die Abstiegsgesellschaft geschrieben, das im vergangenen Jahr erschienen ist. Darin beschreibt er, wie der soziale Kitt, der die Gesellschaft einst zusammenhielt, unter dem Druck von Globalisierung und Digitalisierung langsam zerbröselt. Sich auflöst. Der starke Wettbewerb laste immer stärker auf den Schultern des Einzelnen. Die heutige Lage beschrieb er einmal mit einer Rolltreppe, die nach unten fährt. „Wer nicht schnell genug nach oben läuft, landet unten.“

Zwar sagt Nachtwey auch, der reale Abstieg sei geringer als der gefühlte – doch Gefühle sind oft stärker als Fakten. Vor allem das Gefühl der Verlustangst. Was der Tiefenpsychologe da tut, ist fragen und zuhören: Woher kommt die Furcht, wie kann sie verschwinden? Schulz macht im Wahlkampf im Grunde nichts anderes, als eben diese Fragen zu stellen. Wenn seine Thesen auch nicht zum Empfinden der Mehrheit passen, existieren die Sorgen trotzdem. Und wollen gehört werden.

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