Massenansturm trotz Corona: Die Angst der Touristenorte vor den Gästen
Der Wintersport ist im Touristenort Winterberg wegen Corona verboten. Trotzdem kommen so viele Besucher wie noch nie.
Es ist eine gute Nachricht, aber für Michael Beckmann hat sie schlechte Nebenwirkungen: Seit ein paar Tagen gibt es keinen Landkreis mehr in Nordrhein-Westfalen mit einer Inzidenz über 200.
Damit greifen die Reisebeschränkungen nicht, auf die sich Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten verständigt hat. Beckmann, der Bürgermeister von Winterberg im Hochsauerland, muss sich auf eine neues Horrorwochenende einstellen. Die Bewohner der Ballungsgebiete in Rheinland und Ruhrgebiet haben weiterhin freie Fahrt in den Schnee.
Obgleich das Gastgewerbe im Sauerland ebenso eingestellt ist wie im Rest der Republik, kamen an den vergangenen Wochenenden Zehntausende, um im Schnee zu spielen. Kein einziger Skilift ist in Betrieb, doch es zieht die Menschen aus ihren städtischen Wohnsilos trotzdem in die Berge.
Am 27. Dezember war es schlimm und am vergangenen Wochenende unerträglich.
Die Autos schlichen über 45 Kilometer lange Staus durch die schmalen Täler. „In der Dimension haben wir das nicht erwartet“, sagt Beckmann dem Tagesspiegel. Nach Absprache mit der Landesregierung in Düsseldorf, die 100 Polizisten zur Verfügung stellte, machte der Bürgermeister dicht. Eine Bundesstraße durch das Ruhrtal wurde gesperrt, Parkplätze und Ski- und Rodelhänge auch.
Skilifte fahren nicht
Die Winterberger hatten Angst um Recht und Ordnung. „Die Leute sind mit Schläppchen im Schnee unterwegs“, schildert Beckmann das Verhalten der unbeholfenen Städter. „Sie rutschen aus, verletzen sich oder brechen beim Rodeln ein Bein.“
Wenn dann die Rettungswege zugeparkt sind, wird es brenzlig. Der Schnee hatte die Leute ins Sauerland gelockt, aber womöglich hält auch der Schnee sie am kommenden Wochenende vom Ausflug ins Land der tausend Berge ab.
„Es gibt Schneefall in den tieferen Lagen“, sagt Beckmann. Düsseldorfer oder Dortmunder müssten also nicht mehr bis zum Kahlen Asten fahren, um mit den Kindern einen Schneemann zu bauen.
"Helft uns!, appelliert die Stadt
Winterberg erlebt eine bizarre Wintersaison. Normalerweise kann die Kleinstadt nicht genug Gäste bekommen. In diesen Wochen indes werden diese geradezu angefleht, zu Hause zu bleiben. „Helft uns!“, lautet der Appell an die „lieben Leute aus nah und fern“, sie mögen doch bitte, „die Liebe zu den Bergen ruhen lassen“ und im Ruhrpott bleiben. Dort gibt es keine Berge, aber Toiletten.
Die Stadt kann eine ausgefallene Wintersaison verkraften, da im Sommer viele Besucher kamen und das Gastgewerbe sowie der Handel mit einem Polster das Jahr beendeten. Von Mitte Juni bis Mitte Oktober sei Winterberg ausgebucht gewesen, erzählt Beckmann. Der Zuwachs im Vergleich zur Sommersaison 2019 betrug 15 Prozent. Inzwischen – und ganz unabhängig von Corona – sei der Sommer sogar wichtiger als der Winter, weil sich die Region im Rothaargebirge mit 500 Kilometer Wanderwegen sowie Radstrecken für aktive Urlauber und Familien anbiete.
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Allein in Winterberg mit seinen 4500 Einwohnern stehen 6000 Gästebetten bereit. Mit einem Anteil von gut 60 Prozent an der Wirtschaftsleistung hat der Tourismus eine überragende Bedeutung. In keinem anderen Ort in NRW sei der Fremdenverkehr so wichtig, sagt Beckmann. Mehr als 400 000 Gäste besuchen jedes Jahr das Städtchen.
Neues Geschäftsmodell für den Kurort
Vor 20 Jahren kam nur knapp die Hälfte, erinnert sich Beckmann, der als Tourismus-Direktor (seit 2003) am Profil der „Ferienwelt Winterberg“ gearbeitet hat und auch wegen seines Erfolgs im September zum Bürgermeister gewählt wurde. Mit gut 63 Prozent bekam er ein Ergebnis, das selbst in der konservativ-katholischen Gegend für einen CDU-Mann eher selten ist.
Aufgrund der sauberen und rauen Luft darf sich Winterberg „Heilklimatischer Kurort“ nennen. Für die Malocher aus der Montanindustrie des Ruhrgebiets war die Stadt auch deswegen das naheliegendste Erholungsgebiet. Bis in den 1990er Jahren diverse Gesundheitsreformen den von den Krankenkassen finanzierten Kuraufenthalten ein Ende machten. Die Kurorte brauchten ein neues Geschäftsmodell. In Winterberg verabschiedete man sich vom Club- und Partytourismus und lockte mit dem Rothaarsteig Wanderer. Hinzu kommen die Radler. Bikepark, Trailpark und 1000 Kilometer Radwege werden vom wachsenden Rentner-Peloton auf E-Bikes befahren. „Seit 2015 wissen wir, dass unser Konzept funktioniert“, sagt Beckmann mit Blick auf das Sommergeschäft. Aber Winterberg heißt nicht Sommerberg und bleibt auch ein Wintersportort.
120 Millionen für die Ski-Infrastruktur
Die Skilift-Besitzer leiden besonders unter dem harten Lockdown, aber noch ist die Saison, die bis Ostern dauern kann, nicht abgeschrieben. Beckmann zufolge sind seit 2006 rund 120 Millionen Euro in die Modernisierung der Ski-Infrastruktur geflossen, der Großteil für Sessellifte und Beschneiungsanlagen. 668 Meter über dem Meeresspiegel wird der natürliche Schnee seltener.
Auch in den kommenden Wochen hofft Beckmann auf echte Flocken im Flachland, die ihm die Gäste vom Hals halten. Von der Landesregierung in Düsseldorf lassen sich die geplagten Sauerländer rechtlich beraten und mit Polizeikräften unterstützen, um zum Beispiel „Drifter“ abzuschrecken, die zu hunderten auf den Wiesen ihre Autos im Schneematsch wühlen ließen. „
Das, was uns gerade überkommt, ist das schwierige Gesicht der Pandemie“, heißt es im Schreiben der Stadt an potenzielle Besucher, für die es keine Betten, Gaststätten und Toiletten gibt. „Tu Dir das doch nicht an!“ Ob der Appell ankommt, weiß Beckmann am Sonntag.