Schleichwerbung für Nestlé?: Der Shitstorm über Julia Klöckner reißt nicht ab
Die Agrarministerin erntet Kritik für ihr Video mit dem Nestlé-Chef. Doch die Unzufriedenheit hat viel grundsätzlichere Gründe.
Julia Klöckner ist angriffslustig. Schnell stürmt sie auf die Bühne, so als könne sie es nicht erwarten, ihre Botschaft loszuwerden. Und dann legt sie los. „Es ist normal, sich mit Unternehmen zu treffen, die hier ihre Steuern zahlen, und nicht abnormal“, sagt die Bundesernährungsministerin und erntet an diesem Mittwochabend in Berlin tosenden Applaus. Denn Klöckner hat ein Heimspiel: Sie spricht auf dem Brauertag. Ein Jahr lang war sie Bierbotschafterin und hat die Aufgabe durchaus ernst genommen. Bei langen Sitzungen hat sie den Mitgliedern des Haushaltsausschusses schon mal einen Kasten Bier herübergeschickt. Die Stimmung im Saal ist entsprechend gelöst, hinzu kommt die Hitze, die man mit Freibier löscht. Die meist älteren, meist männlichen Herrschaften aus dem Braugewerbe haben es ohnehin nicht so mit Shitstorms und pfeifen auf Twitter.
Julia Klöckner tut das nicht. Sie reagiert auf Anfeindungen aus dem Netz, und die gibt es derzeit reichlich. Nachdem Klöckner über den Kanal ihres Ministeriums ein Video mit dem neuen Deutschland-Chef des Lebensmittelmultis Nestlé getwittert hat, hagelt es kübelweise Kritik. Dass Marc-Aurel Boersch in dem Filmchen ungebremst Werbung für seine neuen, weniger fett-, salz- und zuckerhaltigen Rezepturen machen durfte, halten viele für Schleichwerbung und Lobbyismus. Von einem „Werbevideo“ spricht die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Youtube-Star Rezo sieht das ähnlich. „Der Vorgang ist peinlich, ja bitter“, meint SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach. „Klöckner lässt sich von Nestlé-Lobbyisten erst die Zuckersteuer und die Lebensmittelampel abverhandeln und tritt dann beim PR-Event von Nestlé auf, einem Konzern, der in Afrika noch Profit mit dem Verkauf des Trinkwassers an die Ärmsten macht“, twittert Lauterbach mit Blick auf den Vorwurf, Nestlé verkaufe in Dürreregionen Grundwasser teuer in Flaschen.
Klöckner gibt zurück. Spricht von „Hatespeakern“ im Netz, die „durchdrehen“. „Schlichter geht es nicht“, twittert sie, „hasserfüllt Politikern pauschal Lobby zu unterstellen, wenn sie ihre Arbeit machen und gute Ziele für die Bevölkerung erreichen“. Der Shitstorm, den sie derzeit erfährt, ist für sie Beleg für ein Phänomen, über das sie seit ihrem Amtsantritt im März 2018 klagt. Klöckner macht ein zunehmendes Schwarz-Weiß-Denken, eine unversöhnliche Polarisierung aus, wenn es um Ernährung und Landwirtschaft geht. Sie selbst sieht sich als bodenständige, pragmatische Politikerin. Dagegen vermissen Opposition und Umweltverbände politische Vorgaben und kritisieren Klöckners mangelnde Härte gegenüber Lebensmittelherstellern und Bauern. Sei es beim Streit um die Düngeverordnung, bei der die CDU-Politikerin die Bauern weniger stark in die Pflicht nehmen will als die EU-Kommission, oder bei Reformen im Lebensmittelrecht.
Während es in Frankreich ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung gibt, will Klöckner das Problem mit Aufklärung und intelligenten Verpackungen lösen, die melden, ob ein Lebensmittel noch genießbar ist oder nicht. Statt wie Großbritannien mit einer Zuckersteuer gegen Übergewicht vorzugehen, möchte die deutsche Ministerin die Nährwertkennzeichnung verbessern. Verbraucher sollen künftig leichter erkennen können, ob ein Nahrungsmittel viel oder wenig Fett, Zucker oder Salz enthält. Doch statt sich für ein System zu entscheiden, will Klöckner die Bürger abstimmen lassen. „Die Ministerin stiehlt sich aus der Verantwortung“, sagt die Agrarexpertin des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND), Katrin Wenz.
Auch bei einem ihrer Herzensthemen, dem staatlichen Tierwohllabel, wünschen sich Umweltschützer mehr Verbindlichkeit. Das Label, das im nächsten Jahr auf den Markt kommen soll, will die Haltung von Schweinen verbessern. Weil eine Pflichtkennzeichnung mit EU-Recht nicht vereinbar wäre, setzt die Ministerin auch hier auf Freiwilligkeit. Wenz hält das für falsch und erinnert an die Grünen-Politikerin Renate Künast, die als Bundesagrarministerin auf EU-Ebene die verpflichtende Kennzeichnung von Eiern durchgesetzt hat. Für die Bauern sei die Unverbindlichkeit fatal: Der tiergerechte Umbau von Ställen geht ins Geld, unsichere Gewinnhoffnungen durch Mehreinnahmen aus dem Tierwohllabel reichen als Grundlage nicht. „Es muss einen gesetzlichen Rahmen geben“, meint Wenz.
Die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch geht noch härter mit der Ministerin ins Gericht. Das Nestlé-Video habe ihn nicht überrascht, betont Sprecher Andreas Winkler. Es zeige das „Politikverständnis“ Klöckners, die keine Berührungsängste mit der Industrie habe. Winkler ärgert, dass der Nestlé-Chef, der erst seit Januar im Amt ist, bereits einen Termin bekommen hat, Foodwatch aber bislang vergeblich wartet.
Zu den Kernprojekten Klöckners gehört auch die Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertignahrungsmitteln. Die CDU-Politikerin will Vereinbarungen schließen, in denen sich Unternehmen wie Nestlé zu gesünderen Rezepturen verpflichten. Gelingt das nicht, droht die Ministerin mit gesetzlichen Schritten. Vielleicht kommt sie dieses Mal nicht daran vorbei. Denn bisher gibt es nur die Vereinbarungen für Cerealien, Erfrischungsgetränke und Kinderjogurts, die Klöckner schon zum Start ihres Projekts im Winter präsentieren konnte. „Neue sind noch nicht hinzu gekommen“, heißt es beim Verband der Lebensmittelwirtschaft.
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