Bahn-Vorständin Sigrid Nikutta im Interview: „Der Schienengüterverkehr ist systemrelevant“
Die Gütersparte der Bahn schreibt seit Jahren Verluste, Corona belastet sie zusätzlich. Im Interview erklärt Sigrid Nikutta, wie sie die DB Cargo profitabel machen will.
Seit Jahresbeginn leitet Sigrid Nikutta als erste Frau die Gütersparte der Deutschen Bahn und sitzt im Vorstand des Konzerns. Die Neuausrichtung der größten Güterbahn Europas wäre schon ohne die Corona-Krise ein harter Job. Doch die 51-Jährige, die zuvor die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) führte, lässt sich nicht bremsen. Die promovierte Psychologin will mit der neuen Strategie „Starke Cargo“ die Wende schaffen.
Frau Nikutta, wie stark hat die Corona-Krise die DB Cargo AG und ihre 30.000 Mitarbeitern getroffen?
Sehr massiv, im Frühjahr hatten wichtige Branchen bis zu 80 Prozent Umsatzeinbruch und das reduzierte natürlich auch unsere Transporte für die Kunden. Doch wir haben uns gemeinsam aus dem tiefen Tal herausgekämpft. Der Oktober lief so gut wie voriges Jahr, das ist unter diesen Bedingungen ein schöner Erfolg. Doch die erneuten Einschränkungen wegen hoher Infektionszahlen zeigen, dass man sich nicht zu früh freuen und mit Prognosen vorsichtig sein sollte.
Bringt die Krise auch Chancen?
Sicher – und wir nutzen sie. DB Cargo hat bewiesen, wie stabil, widerstandsfähig und systemrelevant der Schienengüterverkehr selbst in dieser tiefen Krise ist. Unsere Transportketten haben auch grenzüberschreitend an jedem einzelnen Tag dieses Jahres funktioniert. Da gab es keine Unterbrechungen. Wir haben geliefert, zuverlässig und pünktlich wie lange nicht mehr – und damit neue Kunden gewonnen.
Zum Beispiel?
Ein Erfolg ist unsere Hotline, mit der wir schnell Lieferketten auf der Schiene organisieren, wenn andere Transportwege ausfallen. Ob Pasta aus Italien, Verpackungsmaterial, Zellulose, Getreide, Wein oder Glasflaschen, DB Cargo hat das übernommen und die Versorgung gesichert. Allerdings können die neuen Transporte den Corona-bedingten Schwund bei den großen Volumina der Auto- oder Stahlindustrie nicht ausgleichen.
Der DB-Konzern soll 5 Milliarden Euro Staatshilfen zum Ausgleich für Corona-Einbußen erhalten. Die EU-Kommission könnte die Genehmigung an Auflagen knüpfen, zum Beispiel die Teilprivatisierung von Betriebssparten wie DB Cargo. Was dann?
Der Schienengüterverkehr ist systemrelevant, das zeigt die Corona-Krise. DB Cargo hat den Warentransport durchgehend gesichert, das ist ein wichtiger Beitrag für unsere Volkswirtschaft. Wir haben nicht einfach mal den Betrieb eingestellt, bis die Ertragsaussichten wieder besser sind. Meine Empfehlung ist, unsere DB Cargo als bundeseigenes Unternehmen zu stärken und die Stärke von Cargo dann auch zu nutzen.
Ein großer Teil der Gütertransporte in Europa rollt über die Straßen. Warum sollte sich das ändern?
Angesichts des Klimawandels müsste jedem klar sein, welche Bedeutung umweltschonender Verkehr hat. Jede Tonne Ladung auf der Schiene spart automatisch 80 Prozent CO2. Die Verlagerung von Transporten auf die Bahn ist daher eine der wirkungsvollsten und einfachsten Maßnahmen zum Klimaschutz überhaupt. Die verpflichtenden Vorgaben des Pariser Abkommens sind nur erreichbar, wenn wir diese Verlagerung schaffen.
Tut die Politik dafür genug?
So viel Unterstützung wie jetzt gab es noch nie für die Schiene. Im Masterplan Schienenverkehr der Bundesregierung sind viele gute Maßnahmen definiert, die zügig umgesetzt werden müssen. Manches dauert, aber man muss dranbleiben. CO2-Bepreisung, Technologieförderung, Unterstützung des Kombi-Verkehrs, das alles wird die Verlagerung voranbringen. Bei einigen Punkten stehen wir aber noch am Anfang.
Warum hat der Güterverkehr auf der Schiene über Jahrzehnte so stark an Boden verloren?
Das sollten wir uns alle fragen. Seit mindestens 50 Jahren wird propagiert, mehr Güter auf die Schiene zu kriegen. Schon der Leber-Plan sollte Ende der 1960er-Jahren die Gütertransport mit der Bahn wieder attraktiver machen, es gab auch danach viele sinnvolle Vorschläge. Seit der Bahnreform haben wir es geschafft, den Anteil stabil zu halten, also mit dem Markt zu wachsen. Trotzdem werden heute nur noch 18 Prozent der Waren mit der Bahn transportiert. Und dazu haben wir alle beigetragen.
Wie meinen Sie das?
Wir machen uns zu wenig bewusst, wie die Waren, die wir täglich konsumieren, eigentlich zu uns kommen. Der Trend zu Bioprodukten ist erfreulich groß, aber die Transportwege sind oft lang und nicht immer umweltschonend. Ich wünsche mir daher ein Produktsiegel, auf dem steht: Klimafreundlich auf der Schiene transportiert. Denn das gehört zu wirklich nachhaltigem Konsum.
DB Cargo fährt seit Jahren Verluste ein. Manche befürchten ein Minus von mehr als 500 Millionen Euro allein in diesem Jahr. Wie sieht die aktuelle und mittelfristige Planung aus?
Prognosen sind schwierig. Die Transportmärkte sind sehr volatil, vieles hängt davon ab, wie wir die Corona-Pandemie in den Griff bekommen. Wir setzen auf unsere neue Strategie „Starke Cargo“. Damit wollen wir zum großen Bahn-Logistiker in Europa werden – also zu einem Unternehmen, dass bei nachhaltigen Transportketten über die Schiene die Nummer 1 ist. Und natürlich ist es dabei unser klares Ziel, mittelfristig schwarze Zahlen zu schreiben und langfristig erfolgreich zu sein.
Wie wollen Sie das umsetzen?
Erst mal brauchen wir für unseren Wachstumskurs ausreichend Personal. Wir stellen 1000 Mitarbeiter pro Jahr neu ein, so viele wie schon lange nicht mehr. Zudem bilden wir für alle wichtigen Aufgaben selbst Nachwuchs aus. Dann investieren wir in neues rollendes Material. Unsere Rangierloks sind im Schnitt 44 Jahre alt, 60 Prozent müssen bis 2030 ausgetauscht werden.
Welche Investitionen sind da geplant?
Wir setzen auf umweltschonende Hybridtechnik und haben im ersten Schritt 100 Loks bestellt, die mit Diesel und Strom fahren können. Weitere 150 Rangierloks werden entsprechend umgebaut. Auch 100 Zweikraftloks sind gerade in der Beschaffung, das sind Loks, die sowohl auf der Strecke als auch im Rangierdienst fahren können.
Ihre Wettbewerber beklagen Dumpingpreise von DB Cargo, die nur wegen der einseitigen Bundeshilfen für Ihren Staatskonzern möglich seien. Was sagen Sie dazu?
Wenn Wettbewerber beginnen, uns schlecht zu reden, weiß ich: Unsere Wachstumsstrategie wirkt. Aber im Ernst: Mancher, der uns kritisiert, ist mit Tiefpreisen unterwegs, um uns zu unterbieten. Da machen wir nicht mit. Wir stehen für faire, verlässliche Konditionen, hohe Sozialstandards und langfristige Kundenbeziehungen. Heute besonders billig und morgen dafür wieder viel teurer, das ist keine Strategie, die sinnvoll ist.
Könnten die Engpässe im Schienennetz zum Bremsklotz für Ihre Wachstumsstrategie werden?
Aktuell schaffen wir mit unseren Güterzügen trotz der Corona-Krise historisch gute Pünktlichkeitswerte, obwohl auch der Personenverkehr kaum reduziert wurde. Wir sind ja vor allem nachts und in Randzeiten unterwegs. Es gibt Engpässe. Aber die Infrastruktur wird ausgebaut und mit digitaler Technik modernisiert. Deshalb ist noch Luft nach oben und ich bin da entspannt.
Offenbar kommt Ihr Kurs auch bei der Belegschaft gut an, die vor Jahren noch Protestdemos gegen Rotstiftkonzepte startete. Allerdings gibt es intern Debatten, wie viele Aufträge nach außen vergeben werden. Was steckt dahinter?Wir planen keine Auslagerungen, sondern wollen mit Vergaben an Partner ein Umweltnetzwerk für klimafreundliche Bahntransporte schaffen, eine enge Verzahnung der Bahnen und Spediteure. Darum geht es. Es ist enorm sinnvoll, auch kleinere Bahnen in unsere Strategie einzubeziehen. Das stabilisiert das gesamte System. Ein florierendes Unternehmen muss nicht zwanghaft alles selbst machen. Wichtig ist, dass wir dauerhaft sichere Arbeitsplätze anbieten – und da wollen wir gemeinsam hin.
Der Einzelwagenverkehr ist der größte Verlustbringer von DB Cargo? Ist die Sparte zu halten?
Es gibt intensive Debatten dazu und nicht immer werden die Dimensionen erkannt, um die es hier geht. Die Sparte macht ein Fünftel des Güterverkehrs auf der Schiene aus. Wie fahren 12 000 Züge in diesem System – und zwar jede Woche. Jeder dieser Züge erspart bis zu 52 Lkw. Es wäre verrückt, das aufzugeben. Wollen wir denn noch mehr Lkw-Verkehr und dazu die Autobahnen teuer elektrifizieren? Das kann nicht der richtige Weg sein, wenn wir Klima und Umwelt schützen und die Ziele des Green Deals erreichen wollen.
Welche Perspektiven hat der Kombi-Verkehr mit Bahn und Lkws?
Das ist für uns der größte Wachstumsmarkt, denn da gelingt die Verlagerung auf die Schiene am schnellsten. Voraussetzung sind aber leistungsfähige Verladestationen. Der Aus- und Neubau von Kombi-Terminals dauert oft viel zu lange. Grund sind die langen Genehmigungsverfahren. Wenn die DB Netz ein Terminal vergrößern will, damit wir mit 740-Meter-Zügen reinkommen, ist dafür bisher ein neues Planfeststellungsverfahren nötig. Das ist völlig kontraproduktiv, es muss viel schneller gehen. Ich hoffe sehr, dass die Prozesse durch die jüngsten Gesetzesänderungen deutlich beschleunigt werden.
Es gab Widerstände im Vorstand und Aufsichtsrat gegen Ihre Berufung. Wie läuft nun im ersten Jahr die Zusammenarbeit?
Ehrlicherweise habe ich das nur gelesen. Weder beim Antritt noch bis heute habe ich solche Widerstände gespürt.
Manche handeln Sie als künftige DB-Chefin. Sie wären die erste Frau an der Spitze des Konzerns...
Ich bin schon die Erste. Seit 185 Jahren leitet mit mir erstmals eine Frau die größte Güterbahn Europas!
Noch ein Blick in die Zukunft: Welche Bedeutung wird die DB 2030 im Gütertransport haben? Was wird sich bei Logistikketten und Technologie ändern?
Wir werden viele wichtige Warenströme auf die Schiene verlagert haben – und alle werden sich fragen, wie wir es so lange zulassen konnten, dass so viele Transporte über die Straßen rollten.