Ende der Steinkohle: Das Ruhrgebiet will sich wandeln
500.000 Menschen haben einst in den deutschen Kohlezechen geschuftet – nun schließt die letzte. Das Ruhrgebiet setzt auf Hochtechnologie. Ein Besuch vor Ort.
Selbst die Luft hier unten wird Ludger Sonnenschein vermissen. „Riecht ihr das?“, fragt er und reckt 1159 Meter unter der Erde die Nase in die Höhe. Ein warmer Wind weht durch den Schacht, er lässt die Kabel unter der Decke schaukeln und pustet den Gästen Dreck ins Gesicht. Für den Laien riecht es nach Erde, Ruß und Schweiß. Sonnenschein nennt es „Schwarzwaldluft“ – schwarz wie die Kohle, die sie hier unten fördern.
Es sind 26 Grad an diesem Mittag auf der siebten Sohle tief unter Bottrop, im Schacht zehn des Bergwerks Prosper Haniel. Ein Förderkorb hat die Gäste hier heruntergebracht, so tief geht es dabei abwärts, dass es in den Ohren knackt. Unten angekommen, führt ein langer Gang zu einem unterirdischen Bahnhof, wo die Dieselkatze wartet. Wie bei einer Schwebebahn hängen die Kabinen unter der Decke. Halb liegend, halb sitzend, geht es mit der Katze tiefer in den Berg hinein. Ins Revier von Ludger Sonnenschein.
Seit fast 40 Jahren arbeitet er schon im Bergbau, wie vor ihm sein Vater. Mit 18 hat Sonnenschein an der Walze gestanden, die die Kohle aus dem Stein schlägt. Später machte er Karriere, erst als Schichtsteiger, dann als Reviersteiger. So nennt man im Bergbau diejenigen, die die Verantwortung tragen. „Im Berg“, sagt Sonnenschein, „lernt man zu improvisieren, keine Angst vor großen Aufgaben zu haben.“ Als „ehrlichen Beruf“ beschreibt er den Job des Bergmanns. Kumpel halten zusammen, helfen sich. Bis zuletzt.
Mit Prosper Haniel die letzte Zeche
Denn bald ist hier Schicht im Schacht. An diesem Freitag werden sie zusammen mit dem Bundespräsidenten das letzte Stück Kohle hochholen. Dann ist der Bergbau unter Tage in Deutschland Geschichte. Prosper Haniel ist die letzte der einst fast 150 Zechen im Ruhrgebiet, die dichtmacht.
Dabei war die Förderung von Steinkohle lange einer der wichtigsten Wirtschaftszweige im Ruhrgebiet. „Dein Grubengold hat uns wieder hochgeholt“, singt Herbert Grönemeyer. Anfang der fünfziger Jahre förderten die Kumpel so viel Steinkohle, dass man damit ein Drittel des deutschen Energiebedarfs decken konnte. Bergleute zählten zu den am besten bezahlten Arbeitern. Doch bereits in den sechziger Jahren kam die Krise. Die hohen Gehälter machten deutsche Kohle teuer. Und auch sonst war die Förderung im Ausland, wo Steinkohle teils auch über Tage abgebaut wird, günstiger. Die Politik stützte die Branche mit Milliarden, bis 2007 das Ende der Zechen beschlossen wurde. Die Bergleute wechselten von einer Grube, die dichtmachte, zur nächsten. Bis nach Bottrop zu Prosper Haniel.
Arbeiteten zu Hochzeiten im Ruhrgebiet fast eine halbe Million Menschen im Bergbau, hat Ludger Sonnenschein heute nur noch 1500 Kollegen. Viele von ihnen bleiben nach dem symbolischen Ende noch ein Jahr lang, um aufzuräumen. Um die Förderbänder zu demontieren und die schweren Maschinen aus dem Schacht zu holen. Danach geht es für die meisten in den Vorruhestand. So auch für Sonnenschein, der im kommenden Jahr 57 wird. Ein seltsames Gefühl, in Rente zu gehen, wenn keiner einem nachfolgt. Wenn es den Beruf, den man einst gelernt hat, nicht mehr gibt. 350 junge Menschen haben Sonnenschein und seine Kollegen auf Prosper Haniel jedes Jahr ausgebildet. In den letzten Jahren bereits ausschließlich für die freie Wirtschaft. Für den Nachwuchs geht es weiter als Maschinenschlosser, Elektroniker oder Chemikanten. Nur nicht hier, nicht unter Tage.
Einzig 300 Kumpel aus dem Bergwerk in Bottrop sind derzeit noch auf Jobsuche. Für sie ist auf dem Werksgelände eine eigene Arbeitsagentur eingerichtet worden. Sie vermittelt Bergleute an die Feuerwehr, andere schulen um, werden Krankenpfleger. Niemand, heißt es in Bottrop, soll „ins Bergfreie“ fallen.
Nicht überall im Ruhrgebiet ist der Strukturwandel gelungen
Dabei ist das mit den Jobs im Ruhrgebiet so eine Sache, die Arbeitslosigkeit ist mit 8,8 Prozent hoch. Vom aktuellen Wirtschaftsaufschwung kommt im Pott kaum etwas an, heißt es in einer Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft. Gründe dafür gibt es viele: zu wenige Akademiker, kaum Gründer, kaputte Straßen und Brücken, eine zu geringe Finanzkraft der Kommunen. Obwohl das Ende der Steinkohle mit Ansage kam, ist der Strukturwandel längst nicht überall gelungen.
Dabei haben viele Städte versucht, sich zu wandeln. So auch Gelsenkirchen. Nach dem Zechen-Ende wollte man dort zur „Stadt der 1000 Sonnen“ werden. Als Shell im Jahr 1999 eine der modernsten Solarzellfabriken in Gelsenkirchen bauen ließ, wähnte sich die Politik am Ziel und sprach bereits vom neuen „Solar Valley“. Doch der Plan ging nicht auf, zu groß war die Billigkonkurrenz aus Asien. Zwei Mal wechselte die Vorzeigefabrik den Besitzer, bevor es nach mehreren Insolvenzen 2013 mit der sonnigen Zukunft endgültig vorbei war.
Heute ist Gelsenkirchen eine Stadt, über die selbst RWE-Chef Rolf Martin Schmitz sagt: „Da möchten Sie nicht wohnen.“ Zwar gibt es durchaus Lichtblicke: So hat der niederländische Wäschehersteller Hunkemöller zuletzt seine Deutschland-Zentrale in die Stadt verlegt. Der Kfz-Zulieferer Bilstein baut derzeit ein Logistikzentrum, schafft damit 400 Jobs. Doch reichen wird das nicht. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist in Gelsenkirchen noch immer so hoch wie in keiner anderen deutschen Stadt. Fast ein Drittel der Einwohner ist arm oder von Armut bedroht. Weil zu viele Menschen wegziehen, stehen Häuser leer und verfallen. In ihrer Not kauft die Stadt bereits selbst Schrottimmobilien auf.
Dortmund hat seine Wirtschaft früh umgebaut
Dabei kann der Strukturwandel, der Umbau der Wirtschaft durchaus gelingen. Das zeigt ausgerechnet eine Stadt, die Gelsenkirchen auf dem Fußballplatz Konkurrenz macht: Dortmund. Auch dort waren die Ausgangsbedingungen nicht gut. Gleich drei große Industrien sind in der Stadt weggebrochen. Neben der Kohle und dem Stahl war das das Bier. Sechs Großbrauereien gab es einmal in Dortmund – übrig geblieben ist davon eine. 80.000 Arbeitsplätze sind in der Stadt durch das Ende von Kohle, Stahl und Bier abgebaut worden. Und doch ist der Wandel auf dem Weg. Gerade ist die Arbeitslosenquote erstmals seit 1981 unter zehn Prozent gesunken. Inzwischen ist sie damit ähnlich hoch wie in Berlin-Mitte.
Einer, der Jobs in Dortmund schafft, ist Anton Mindl. Aus dem Besprechungsraum seines Unternehmens im Technologiepark blickt er auf eine flache Produktionshalle, an der sich Rohre entlangschlängeln. Regelmäßig pustet die Klimaanlage Schwaden in die Luft. 24 Stunden läuft hier der Betrieb, sieben Tage die Woche, einzig an Neujahr wird eine Pause eingelegt. Unten im Reinraum produzieren 450 Mitarbeiter Chips für die Automobilbranche, weltweit sind es 1300 Angestellte. „In jedem Neuwagen stecken heute im Schnitt vier Bauteile von uns“, sagt der Vorstandschef. Elmos, so heißt das Unternehmen, ist nach eigenen Angaben Weltmarktführer für die Chips, die Einparkassistenten in Fahrzeugen steuern. Andere Elemente lösen im Fall eines Unfalls die Airbags aus oder kontrollieren, wie viel kalte Luft die Klimaanlage in den Wagen bläst. Und das ist erst der Anfang, meint Anton Mindl. „Im autonomen Auto werden Sie noch sehr viel mehr Chips brauchen.“
Selbstverständlich ist aber auch dieser Erfolg nicht. Als die Elmos-Gründer 1984 entschieden, in Dortmund Chips zu fertigen, haben viele sie belächelt. Das solle man den Japanern überlassen, sagten manche. Auf der Wiese hinter dem Firmengebäude grasten damals noch Schafe. Heute steht dort das Fraunhofer Institut für Logistik, drumherum gruppieren sich andere Unternehmen aus der Biomedizin, der Mikro- und Nanotechnologie. 300 Mittelständler beschäftigen hier mittlerweile 10 000 Mitarbeiter.
Nur frühere Bergleute sind darunter wenige. So auch bei Elmos. Gefragt ist im Reinraum vor allem Fingerfertigkeit, viele Mitarbeiter bildet die Firma deshalb selbst aus. Ohnehin könnte es kaum einen größeren Kontrast geben zwischen dem Reinraum und der Grube. Während bei Elmos Schutzkleidung die Chips vor Staub und anderen Kleinstpartikeln schützt, färbt unter Tage der Ruß die Gesichter schwarz. Nur eins ist an beiden Orten streng verboten: das Rauchen.
In der letzten Zeche wird jetzt aufgeräumt
Im Schacht zehn im Bergwerk Prosper Haniel holen die Arbeiter deshalb ihre Dosen mit Schnupftabak hervor, ihr Ersatznikotin. Ludger Sonnenschein führt einen schmalen Gang entlang, die Lampe am Helm beleuchtet den unebenen Weg. Noch einmal biegt der Bergmann um die Ecke – und plötzlich steht die Gruppe vor der Walze. Ihr Rad mit den spitzen Greifern ist so groß, dass es die Besucher überragt. „Normalerweise kommt man so nah gar nicht ran“, sagt Sonnenschein. Noch bis September hat sich die Walze hier in die Wand aus Kohle gefressen. Jetzt steht sie still, früher als geplant war die Fördermenge erreicht.
Neben der Walze wartet Martin Peterle auf seinen Einsatz. Der 54-Jährige ist zum Aufräumen gekommen. Wie so viele hier unten stammt Peterle aus einer Bergarbeiterfamilie, Vater und Bruder waren Kumpel. Auch Peterle hat im Schacht gelernt, ist später dann aber zum Walzen-Hersteller Eickhoff gewechselt. Seitdem ruft man ihn, wenn eine Maschine gewartet werden muss. Oder wenn eine Zeche schließt. In so vielen Gruben im Ruhrgebiet hat Peterle bereits beim Aufräumen geholfen, dass er aufgehört hat mitzuzählen. An Bottrop wird er sich erinnern, die letzte Zeche im Pott.
86 Tonnen wiegt das Gerät, das Peterle und die Kollegen nun in ihre Einzelteile zerlegen und an die Erdoberfläche bringen müssen. Zwei bis drei Wochen, schätzt er, wird das dauern. Und danach? „Zu tun gibt es genug“, sagt Peterle. Er folgt der Kohle. Weg aus dem Ruhrgebiet, dorthin, wo noch immer neue Bergwerke entstehen. Wo man die Technik und das Wissen aus dem Pott zu schätzen weiß. Nach China.
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