Strukturwandel im Ruhrgebiet: Komm aus’m Pott!
Rauchschwaden, goldflüssiger Stahl, Gesichter voller Kohlestaub - das steht in Deutschland noch immer fürs Ruhrgebiet. Doch die Bilder stimmen längst nicht mehr. Nun wird auch die letzte Zeche dicht machen.
Ruhrgebiet. Ein Gebiet also. Eine – bis auf die Tatsache, dass sich der Fluss Ruhr auf ihr befinden muss – vom eigenen Namen nicht näher beschriebene Fläche, besiedelt von fünf Millionen Menschen, 4500 Quadratkilometer groß. Elf kreisfreie Städte finden Platz darauf, halbmillioneneinwohnergroße sind dabei. Dortmund im Osten, Essen mittig, im Westen Duisburg. Vier Landkreise.
Nicht näher beschriebene Flächen eignen sich zum Bemalen. Es gibt wenige Gegenden in Deutschland, deren Namen bei Menschen, die noch nie oder lange nicht mehr dort gewesen sind, so verlässlich Bilder im Kopf entstehen lassen wie das Ruhrgebiet. Schornsteine mit Rauchfahnen obendrüber, Fördertürme, goldflüssiger Stahl. Kohlenstaubgesichter, Flaschenbier, Halden, Helmut Rahn. Rahn, Bergmannssohn aus Essen, „aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt – Tor! Tor! Tor! Tor! Tor für Deutschland.“ Die Bilder stimmen längst nicht mehr. Rahn schoss 1954.
Mehr als 470.000 Menschen waren Mitte der 50er Jahre in der Kohleförderung beschäftigt, in der Stahlindustrie waren es noch einmal so viele. Ruhrkohle hatte die Industrialisierung des Deutschen Reichs befeuert und wiederholte das nun beim bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder. Eisen und Stahl waren seine Säulen. Es herrschte Vollbeschäftigung.
Der Kapitalismus frisst seine Kinder
Dann, das Jahrzehnt und das Wunder waren noch nicht vorbei, begann der Niedergang. Der Kapitalismus fing an, ausgerechnet diejenigen zu fressen, die ihn überhaupt erst groß und stark gemacht hatten. Importierte Kohle war billiger geworden als die aus dem Ruhrgebiet, die ersten Zechen schlossen. Das letzte verbliebene Bergwerk, Prosper-Haniel in Bottrop, wird am Ende dieses Jahres den Betrieb einstellen.
In der Zwischenzeit setzte etwas ein, wofür ein anderer unpräziser Begriff gefunden wurde. Der Strukturwandel. Kohle und Stahl – zur dauerhaften Kohlekrise gesellten sich ab 1973 mehrmals wiederkehrende Stahlkrisen – mussten ersetzt werden, abgelöst in ihrer Rolle als Broterwerb und Identitätsstifter. Befördert wurde das durch Bildung, Kultur und Geld.
Dortmund bekam in den 60er Jahren eine Massenuniversität. Bochum auch. Peter Zadek wurde in den 70ern Intendant am Schauspielhaus dort, Claus Peymann folgte ihm nach. In Oberhausen steht auf einem einstigen Eisenhüttengelände heute eine der größten Ladenzeilen Europas. Der FC Schalke 04 bekam ein Stadion, über dem man das Dach aufmachen kann. Essen wurde Europas Kulturhauptstadt, die dortige Zeche Zollverein Industriedenkmal und Unesco-Welterbe. Eine Zeit lang konnte man dort Riesenrad fahren, es gibt Ausstellungsräume, Restaurants und Kunstwerkstätten. Nach dem Kölner Dom ist sie Nordrhein-Westfalens größte Touristenattraktion.
Mittlerweile stellen noch 27 Prozent der Erwerbstätigen im Ruhrgebiet etwas her. 73 Prozent sind Dienstleister. Firmenansiedlungen gab es so zahlreich, dass staatliche Wirtschaftsförderer vor sieben Jahren behaupteten, dem Ruhrgebiet gingen die Gewerbeflächen aus.
Die Arbeitslosigkeit ist höher als in Ostdeutschland
Die offizielle Arbeitslosenquote liegt dennoch bei 9,1 Prozent. Das sind zweieinhalb Prozentpunkte mehr als in Ostdeutschland. Mülheim an der Ruhr hat Oberhausen im vergangenen Jahr als diejenige NRW-Großstadt mit der größten Pro-Kopf-Verschuldung abgelöst. Dortmund, das SPD-Bundestagsfraktionschef Herbert Wehner 1966 die „Herzkammer der Sozialdemokratie“ nannte, ist zum Biotop für rechtsradikale Gewalttäter geworden. Im Einwandererviertel Nordstadt gibt es rechtsfreie Räume, die CDU sprach 2016 von „No-Go-Areas“. Im Jahr darauf wurde sie an die Landesregierung gewählt.
Traumwahlergebnisse – die SPD konnte sich in Ruhrgebietsstädten jahrzehntelang auf Zustimmung jenseits der 50-Prozent-Marke verlassen – erzielt hier nun die AfD. Bei der zurückliegenden Bundestagswahl kam sie in Gelsenkirchen auf 17 Prozent. Ein Landstrich verlor erst die Arbeiter, dann die Arbeit, dann verlor die SPD.
Ein bisschen Undank mag dabei eine Rolle gespielt haben. Unter einer sozialdemokratischen Bundesregierung wurde 1974 der Kohlepfennig eingeführt, ein von jedem Stromkunden in der Bundesrepublik zu zahlender Preisaufschlag, der den Bergbau finanzierte. Auch Steuergeld floss reichlich. Um die Jahrtausendwende, wieder regierte im Bund die SPD, kostete jeder Bergbauarbeitsplatz die Steuerzahler 80.000 Euro pro Jahr.
Ein mehr als halbjahrhundertlanger, manchmal rabiater, oft aber abgefederter Wandel und sein Andauern bis heute – all das mag erklären, warum die alten, rußschwarzen Zeiten in den Köpfen konserviert bleiben. Sie sind das Einzige, was einmal sicher schien. Torsten Hampel
Bochum
Bochum
Das erste Mal „anne Castroper“ war ich mit acht, am 6. Mai 1972. Unser VfL Bochum spielte gegen Eintracht Frankfurt. Onkel Peter übernahm das Einführungsritual: zu Fuß zum Stadion an der Castroper Straße, Fahne kaufen und rauf in die Stehplatzränge. 3:1 gewann der VfL.
Onkel Peter traf im Stadion immer Kollegen von Opel. Viele rundum arbeiteten auch in den Stahlwerken schräg gegenüber. Später, als ich mit Freunden nach Heimspielen noch ein Bier trinken ging in einer der VfL-Kneipen, diskutierten die Opelaner und Stahlwerker am Tresen nicht nur über Fußball, sondern auch über ihre Sorgen um den Job.
„Anne Castroper“ gab es denkwürdige Siege und bittere Niederlagen des VfL zu erleben – und bei aller Rivalität mit Schalke 04, Borussia Dortmund, dem MSV Duisburg oder Wattenscheid 09 immer dann Solidarität, wenn es dem Ruhrpott dreckig ging. Im Frühjahr 1997 etwa, als die Kürzung der Kohlesubventionen verkündet wurde und Tausende Bergleute um ihre Zukunft bangten. Am 7. März empfing der VfL die Schalker. Die Mannschaften liefen zusammen mit ein paar Dutzend Kumpels ein, die Fans besangen den Zusammenhalt im Revier. Dass Schalke 1:0 siegte, schmerzte dennoch.
Der letzte Pütt – die letzte Zeche – in Bochum ist längst dicht, ebenso das Opel-Werk. Von den einst stolzen Stahlwerken ist eine kleine Gießerei geblieben. Dem Ruhrgebiet wird seit Jahrzehnten ein harter Strukturwandel abverlangt. Bochum hat nach dem Ende von Stahl und Kohle erst mal durch Opel überlebt. Nokia war ebenfalls ein großer Arbeitgeber – bis im Mai 2008 auch damit Schluss war.
„Wissen, Wandel, Wir-Gefühl“, unter dem Motto will die einstige Arbeiterstadt ein Standort für Technologie, Dienstleistungen und Hochschulen werden. Kultur kommt dazu, das Musikforum ist der neue Stolz Bochums. Neben dem VfL-Stadion läuft seit 1988 das Musical „Starlight Express“.
Auch die Fußballclubs im Revier sind nicht mehr die Arbeitervereine, als die sie mal gegründet wurden. Schalke 04 und Borussia Dortmund sind mit professionellem Management zu Weltmarken geworden. Beim VfL Bochum ist alles ein paar Nummern kleiner, seit Jahren spielen die einst „Unabsteigbaren“ in der 2. Liga. Manche Saison wird zum Überlebenskampf, ähnlich dem des Ruhrgebiets. Das 1979 an alter Stätte eingeweihte Ruhrstadion zählt aber zu den stimmungsvollsten im Profifußball. Ich muss mal wieder hin. Kai Portmann
Vor genau 50 Jahren stand der VfL erstmals im DFB-Pokalfinale – damals als Regionalligist. Das Spiel verlor die Mannschaft gegen den 1. FC Köln 1:4
Dortmund
Dortmund
Noch kurz vor der Jahrtausendwende konnte man die Flamme in den Abendhimmel lodern sehen. Aber da wirkte das Feuer aus den Hochöfen schon nicht mehr wie das Leuchten der Heimat, sondern eher wie ein Ausdruck später Industrieromantik. Das Ende des Dortmunder Phoenixwerks war nahe, die Pläne für den gleichnamigen See, der die Fläche nach Stilllegung fluten sollte, gab es schon.
Heute reibt sich die Augen, wer auf dem früheren Werksgelände Phoenix Ost auf einer „Kulturinsel“ im See verweilt, dort wo auch die frisch polierte historische Thomasbirne steht, in der einst aus Roheisen Stahl erzeugt wurde. Wo man sich früher allein durchs Vorbeilaufen einen schwarzen Hals holte, werden nun in feinen Lokalen Sushi, Steak New York Style oder exotische Eissorten serviert – am Rande eines kleinen Segelhafens. Über allem wacht die zu einem romantischen Baumonument restaurierte Hörder Burg, in der einst die Buchhaltung des Werks untergebracht war.
Auch am See liegt die Weingarten-Schule. Dort prügelten sich früher Gastarbeiterkinder mit dem Nachwuchs von der Remberginsel nebenan, die ein sozialer Brennpunkt war. Heute lernen dort Kinder aus anderen Milieus, in der Umgebung stehen nun elegante Villen Dortmunder Honoratioren. Deren teuer erkaufte Ruhe vertreiben an Wochenenden regelmäßig Skater und Spaziergänger aus ganz Dortmund, die den See umkreisen.
An solche Bilder war nicht zu denken in den 60er Jahren, als das Stahlunternehmen Hoesch mit der Dortmund-Hörder Hüttenunion fusionierte. Damals arbeiteten allein 20 Prozent der Dortmunder Werktätigen bei Hoesch, und später kam es vor, dass Willy Brandt höchstpersönlich den Umzug zum Tag der Arbeit am 1. Mai anführte. Die Bewohner der angegrauten Mietshäuser nahe dem Westfalenpark gingen teils noch mit dem Henkelmann zur Maloche und beschwerten sich über Kinderlärm, wenn sie Nachtschicht hatten und tagsüber schlafen wollten.
Heute ist der Himmel über der Ruhr, wie von Brandt im Wahlkampf gegen Konrad Adenauer 1961 gefordert, blau. Gerade hat ein schickes Hilton-Hotel am Phoenix-See eröffnet, rundum wird gebaut, als zöge die gesamte High Society des Landes morgen nach Dortmund. Die verbliebenen Ureinwohner sind nach wie vor der festen, nur ganz leise selbstironischen Überzeugung: „Dortmund ist die schönste Stadt der Welt.“ Elisabeth Binder
Der Phoenix-See ist mit einer Wasserfläche von 24 Hektar größer als die Hamburger Binnenalster (18)
Duisburg
Duisburg
Wenn ich früher abends in den Rheinhauser Rheinwiesen stand und von dort auf die andere Seite schaute, schien es, als liefen die Abertausenden Lichter der Stahlwerke auf mich zu. Der an dieser Stelle mächtige Rhein erweckte diesen Eindruck. Natürlich war mir auch damals klar, dass es sich dabei um eine optische Täuschung handelt und ich nicht im Zentrum des Universums stand. Aber der pubertierende Heranwachsende, der ich war, wollte denken, dass er das Zentrum ist.
Politik hieß Jupp Krings, der langjährige Oberbürgermeister von Duisburg. Große Bands waren El Shalom oder die Dusty Broom Blues Band. Meine Schulklasse bestand aus mehr als 40 Schülern und die 50 Kilometer ins niederländische Venlo bedeuteten eine echte Auslandsreise, weil man die D-Mark in Gulden umtauschte. Diese Welt war groß und die einzig richtige. Wir entwickelten eine pathetische Vorstellung vom Ruhrgebiet, die mit dem Mythos von Männlichkeit, harter Arbeit, Ehrlichkeit und klarer Kante verbunden war.
Aber als ich mich irgendwann entschloss, meine Heimatstadt zu verlassen, war dies mit jugendlichem Hochmut verbunden. Der Soundtrack dazu war „Thunder Road“ von Bruce Springsteen. Ein Song, der von Sehnsucht und einem Aufbruch in die unbekannte Welt handelt und der mit den Zeilen endet: „It’s a town full of losers, I’m pulling out of here to win.“
Duisburg, das war später die Stadt der Skandale und des Untergangs: Loveparade-Tragödie, Rockerrivalitäten, Arbeitslosigkeit und die Stahlwerke und Zechen gab es auch nicht mehr. Der Soundtrack dazu: „My City of Ruins“, natürlich auch vom Boss, der immer noch den Soundtrack zu allem zu schreiben schien.
Es hat einige Jahre gedauert, bis ich begriffen habe, wie viel Kraft, Leidenschaft und Innovation in der vermeintlichen Provinz steckt. Ich denke an den Bunker in Bruckhausen, wo Kinder mit Migrationshintergrund Radioprogramme selber machen und dabei nebenbei den Wert der Sprache lernen. Ich denke an das Platzhirsch-Festival, das aus der Duisburger freien Kulturszene entstanden ist. Ich denke an die Tränen in den Augen von Zwei-Meter-Kanten, wenn der MSV den Klassenerhalt schafft. Und ich denke an Musiker wie Tom Liwa, der seit mehr als 30 Jahren unbeirrt seinen musikalischen Weg geht und der vom Blumfeld-Mastermind Jochen Distelmeyer als herausragenden Einfluss auf seine Band und damit auf die Hamburger Schule genannt wird. Auch das ist Duisburg.
Muss nun eine Bewegung entstehen, die die Liebe für die Provinz beschwört und dafür Fördergelder beim Heimatministerium von Horst Seehofer beantragt? Sicher nicht! Gerade Duisburger können mit ihrer lakonischen Coolness zulassen, dass es da draußen eine andere Welt gibt, die vielleicht größer und schillernder ist. Das ertragen sie bei einem gut gezapften Köpi und einer richtigen Currywurst ganz locker. Markus Engels
Insgesamt löste das Duisburger Team um Götz George alias Kommissar Horst Schimanski 29 Fälle
Essen-Frillendorf
Essen-Frillendorf
Für die meisten Menschen ist Frillendorf nur eine Autobahnausfahrt. Bekannt aus den Verkehrsnachrichten, dort herrscht nämlich Dauerstau. Es gibt zu viele Autos im Ruhrgebiet, die Autofahrer würden sagen, es gibt zu wenige Straßen. Die A40, die damals noch B1 war und Ruhrschnellweg hieß, aber Ruhrschleichweg genannt wurde, ist ein Nadelöhr.
Für uns war es Bullerbü. Frillendorf kommt von Vrylincthorpe, das Dorf der Freien, und so hat es sich auch angefühlt. Eine Kastanienallee führte zu unserem Haus, zumindest hieß sie so, auch wenn die Allee, wie ich bei einem Besuch Jahre später merkte, nur ein Straßenstummel war. Aber einer mit Kastanien. Auf der einen Seite der Allee lag ein wildes Holunderwäldchen, in dem wir an Bäumen schaukelten, dahinter war Bauer Schmidt, der uns zu Paten seiner Kälbchen machte.
Frillendorf, nur drei Straßenbahnhaltestellen vom Zentrum Essens entfernt, war ein Dorf, mit allem was dazugehört, Schluckerbude, Volksschule, Dorftrottel und Kirche. Zur Bude trugen wir unser Sonntagsgeld, 50 Pfennig die Woche, und tauschten es gegen Lakritze, Liebesperlen und Wundertüten ein, bei Tönshoff holten wir Würstchen, bei Reinecke am Sonntag Teilchen, eine ganze Tüte voll für fünf Mark.
Unsere Straße hieß Auf der Litten. Das Gelände, auf dem unsere Nachbarn und wir lebten, war auch mal Bauernhof gewesen, den Platz zwischen den Wohnhäusern nannten wir den Hof, auf dem wir Rollschuh fuhren und Schule spielten, als wir noch nicht wussten, wie die in Wirklichkeit war. Ein gutes Dutzend Kinder müssen wir gewesen sein, große und kleine, die Eltern hatten irgendwie alle was mit der Zeche zu tun, mit Hubert, Ernestine, Katharina, Königin Elisabeth, waren Kumpel oder Elektriker, vielleicht auch Verwaltungsangestellte. Der Bergbau war nicht nur Arbeitgeber, sondern sozialer Kitt. Der Hof mit seinen Teppichstangen war unser Dorf im Dorf, mit allem, was dazugehört, enger Zusammenhalt und soziale Kontrolle – Frau Böhler bettete ihren großen Busen aufs Fensterbrett und schaute zu. Es wurde getratscht, geholfen, missgönnt und gefeiert. Der Witz und die Wärme der Menschen hat uns geprägt, die Gelassenheit, der Sound, die Haltung: Man macht kein Gedöns, man macht einfach. Wie unser Nachbar, Herr Heiselmeier, zu unserer Mutter sagte: „Frau Kip’nberga, wattich sagn wollte: erst mal kucken. Ne.“
Das Karussell in unserem Garten stammte aus einem geschlossenen Zechenkindergarten, in den 60ern ging’s mit dem Bergbau schon bergab. Es sind nicht bloß die Fördertürme, die dann verschwunden sind, und das ganze Grün. Aus den Zechen, wurden Gewerbegebiete mit Verkehrsübungsplatz, Tönshoff wurde durch Aldi und Lidl ersetzt, die Bäckerei Reinecke hat dichtgemacht, die Schluckerbude gibt’s nicht mehr, aus den Feldern wuchsen Reihenhäuser statt Getreide, das Wäldchen wurde zugebaut, die Kastanien gefällt. Bald wird auch die katholische Kirche geschlossen. Frillendorf ist ein schrumpfendes Dorf, 1000 Menschen weniger, knapp 6000 sind es noch, mehr Alte als Kinder. Die Wohnhäuser auf dem Hof wurden abgerissen und durch noch hässlichere ersetzt, Solitäre, die keine Gemeinschaft mehr bilden. Bullerbü gibt’s nicht mehr. Susanne Kippenberger
Auf der Autobahn A40, die Frillendorf durchschneidet, fahren täglich 130 000 Fahrzeuge
Bottrop
Bottrop
Ich bin in Bottrop aufgewachsen. Als Kind habe ich viel Zeit im Haus einer älteren Dame verbracht, Frau K. Das Haus gehörte der Ruhrkohle AG und lag in einer ruhigen Straße. Es war grau verputzt, hatte einen großen Hof mit Schuppen und einen Garten mit vielen Obstbäumen. Die einzige Heizung war ein Kohleofen in der Küche. In regelmäßigen Abständen lieferte die Zeche den Deputatkoks, auf den Frau K.s Mann als ehemaliger Zechenmitarbeiter Anspruch hatte. Damit wurde der Ofen befeuert. Ich sah gern zu, wie Frau K. mit dem Ofenhaken die Klappe anhob und in der Glut stocherte. Gekocht hat sie auf einem Elektroherd. Aber wenn viele Gäste im Haus waren, wurde auf dem alten Kohleofen die Suppe warm gehalten. Im Esszimmer neben der Küche gab es eine Nische zwischen der Wand und einem großen Schrank. Hinter der Wand lag der Abzug des Ofens. Die Nische war gerade groß genug für ein Kind. Sie war mein Lieblingsplatz. Die Ofenwärme war anders als die Wärme der Fußbodenheizung bei mir zu Hause, irgendwie echter. Sie schien dich zu umarmen.
So begann eine erste Variante dieses Textes. Ich hatte Frau K. angerufen, wir sprachen über früher und ich schrieb auf, was sie erzählte und woran ich mich zu erinnern glaubte. Geschichten auch von jenem anderen Haus, in dem sie gleich nach dem Krieg gewohnt hatte, wo noch Hühner und Gänse gehalten und geschlachtet wurden, weil es beim Metzger kein Fleisch zu kaufen gab. Von der Obsternte im Garten und ihren 100 Einmachgläsern. Während wir sprachen, schien es mir, als erinnere sie sich gern. Doch als sie den fertigen Text gelesen hatte, bat sie mich, ihn nicht zu veröffentlichen oder ihren richtigen Namen und die Straße nicht zu nennen. In unserem Gespräch waren auch emotionale Missverständnisse entstanden: Mein Text war nostalgisch.
Nostalgie verändert nicht unbedingt die Fakten, aber den Tonus einer Erzählung. Es ist, als überzöge man die Vergangenheit mit emotionalem Zuckerguss. Nostalgie kann entstehen, wenn Menschen, die etwas selbst erlebt haben, sich daran erinnern. Sie kann die eigene Geschichte schöner und erträglicher machen. Sie ist Distanzierung zum Zweck des Selbstschutzes. Sie kann auch fast ein Moment der Emanzipation sein, der emotionalen Überwindung von biografischen Härten. Unsere Großeltern und Eltern, die das industrielle Ruhrgebiet erlebt haben, werden manchmal gern nostalgisch. Das ist ihr gutes Recht. Wenn aber wir Nachgeborenen nostalgisch werden, hat das beinahe etwas Missbräuchliches: Wir usurpieren ihre Geschichte.
Im Zeitalter des Flüchtigen, der digitalen Arbeit, scheint die unmittelbare, konkrete, erschaffende Arbeit des Industriezeitalters plötzlich als beinahe positives Gegenbild. Armut und Härte werden auch erzählt – aber immer ein bisschen, um das wohlige Geborgenheitsgefühl der Danach-Geborenen zu steigern: Seht, wo wir herkommen, wie weit wir gekommen sind. In unserer Aneignung der Nostalgie liegt etwas Ungerechtes. Dafür, dass wir in der Lage sind, sie zu empfinden, haben wir nichts getan. Unsere Großeltern, teils auch unsere Eltern, wissen um die emotionalen und tatsächlichen Lücken in den Erzählungen der Nachgeborenen. Deren Ruhrgebietsnostalgie zwingt gerade das Ausgelassene zurück in die Erinnerung.
So mancher aus der älteren Generation fremdelt deshalb mit dem Ruhrgebietspatriotismus. Wenn jetzt bei der „Extraschicht“, einer Industriekulturveranstaltung, das Steigerlied geschmettert wird, denken unsere Eltern und Großeltern auch an den Steiger aus der Nachbarschaft und an den jungen Cousin, die bei einem Grubenunglück ums Leben kamen. Wenn Politiker bei Festveranstaltungen ihr Publikum mit „Glück auf!“ begrüßen, erinnert sie das auch an den Gestank der Kokerei, der durch die Straßen waberte, und an schwarze Rußflocken, die sich auf die frisch gewaschene Wäsche legten. Für mich sind der Kohleofen und der Obstgarten Symbole einer geborgenen Kindheit. Für Frau K. sind sie Relikte einer Vergangenheit, die von Armut und Entbehrung geprägt war – eine Vergangenheit, die ihr peinlich ist. Anna Sauerbrey
Von ehemals 900 angemeldeten Brieftaubenzüchtern im Reiseverein (RV) Bottrop sind noch 146 übrig
Oberhausen
Oberhausen
Da waren diese Schilder: rote Umrandung, Mahnung, Warnung. Das Kind darauf sah eigentlich ganz nett aus, es hätte bei Ute, Schnute, Kasimir dabei sein können, in den Zeichentrickfilmen im Vorabendprogramm. Doch es schrie und zappelte und stürzte, direkt hinein in den Schlund unter ihm, der aufgerissen war wie ein Haifischmaul. Als ob wir diese Warnung gebraucht hätten: Wennze da reinfälls, kommse nichmehr raus. Das wussten wir, zu steil war das Ufer, zu glitschig das Gras am Deich, zu sumpfig die flüssige Masse dort unten. Dass da Öl und Scheiße schwammen, verstärkte den wohligen Grusel. Trotzdem oder gerade deshalb fand sich immer ein Rocco oder Andi, der auf dem rostigen Rohr über den Abgrund balancierte – ich nicht, ich war immer von der vorsichtigen Sorte.
Vor allem bei Niedrigwasser stank es aus der Emscher, der offenen Abwasserrinne, die das Ruhrgebiet von Dortmund bis zum Rhein durchzieht. Die Kloake zu kanalisieren und einzudämmen, das war in einer Landschaft, in der sich unterirdische Kanäle wegen Bergschäden als problematisch erwiesen, schon ein Fortschritt. Vorher trat das mäandernde Flüsschen über die Ufer und gab den Haushalts- und Industrieauswurf ans umliegende Land zurück. „Jede Zeche entnahm Wasser und pumpte eine verbrauchte und verunreinigte Flüssigkeit in den Flusslauf zurück ohne Rücksicht auf die nächsten Zechen und Gemeinden, die weiter unten lagen.“ So hat das der Schriftsteller Heinrich Hauser in seiner unlängst wiederaufgelegten Reportage „Schwarzes Revier“ beschrieben. „Bergbau war Raubbau zu jener Zeit.“
Jetzt wird die Emscher renaturiert. Es müffelt zwar immer noch, doch auf den Deich, einst no-go, locken schon Wander- und Radwege. Zur Kulturlandschaft, die den Industriestandort abgelöst hat, gehört auch die menschengemacht wiedergewonnene Natur. Wenn wir auf dem Schulweg, auf dem Fahrrad, auf der Emscherbrücke nach links guckten, flussaufwärts, dann stand da am Horizont ein stählernes Trumm. Eigentlich guckten wir gar nicht, wir nahmen das Teil kaum wahr, trotz seiner pharaonischen Dimensionen. Sie war halt da, die olle Tonne, fügte sich ein in die Silhouette der Stahlwerke, Kokereien und Zechen, für uns nichts Spektakuläres. Heute ist der Gasometer für Oberhausen Fernsehturm, Reichstag und Brandenburger Tor in einem: Landmarke, Kulturdenkmal, Wahrzeichen. Christo war natürlich auch da, nicht zum Verhüllen, sondern um innen auszustatten.
Ohnehin liegt die Aura hier drinnen. Im gläsernen Aufzug am Tonnenrand emporzugleiten, macht die eigene Winzigkeit im finsteren Metallbauch erfahrbar. Oben und draußen ist dann vergleichsweise Antiklimax: Auf dem Gasometer steh’n, wo die Winde sausen, und alles, watte sieh’s, is Oberhausen. So ist das halt, wie im Lied der Missfits. Schön is anders, aber irgendwie is ja doch schön. Halt nicht zu schön.
Das Ruhrgebiet wurde in den vergangenen Jahrzehnten zu Kultur erklärt. Jeder Förderturm erscheint mir inzwischen historisch-künstlerisch aufgeladen. Es war ein Prozess, den ich verpasst habe, weil ich seit 1988 in Berlin lebe, aber mit dessen Ergebnissen ich bei jedem Heimatbesuch konfrontiert bin. Am Bahnhof werde ich mit einem aufgemalten Zitat von Erik Reger empfangen: „Gierig klammerten sich seine Augen an die Ruhe der schwimmenden Glut, die von den Gießlokomotiven behutsam dahergefahren wurde.“ Das ist ein eher industrieidyllischer Satz aus Regers Roman „Union der festen Hand“, in dem er den Aufstieg der Nazis in den Zwanzigerjahren beschrieb und Arbeiter wie Industrielle gleichermaßen für ihre Willfährigkeit kritisierte. Reger, der sich immer lustig machte über die Revierfeuilletonisten vom Schlage Heinrich Hausers, ist nun selbst Revierkulturgut. Schön, dass er noch ein zweites Leben hatte: in Berlin, als Gründer des Tagesspiegels. Markus Hesselmann
Vom Dach des Gasometers in 117 Metern Höhe sieht man bei gutem Wetter bis zur Schalker Arena in Gelsenkirchen
Bochum-Wattenscheid
Bochum-Wattenscheid
Früher war das Städtchen, das von Bochum, Gelsenkirchen, Essen und Herne umringt ist, selbstständig – und prosperierend. Der Bergbau, die „Zeche Holland“, hatte Wattenscheid groß gemacht. Kaum eine Familie, die nicht mit dem Kohleabbau unter Tage zu tun hatte. So auch meine. Mein Großvater war Bergmann. Sein Lohn reichte, um 13 Kinder, darunter meinen Vater, zu ernähren. Allerdings mehr schlecht als recht. Denn ein Teil des Geldes landete freitags in der Kneipe.
In meiner Kindheit war die Kohle in der Erde und in der Luft. Unsere Wäsche trockneten wir im Garten. Und zwar zügig. Weiße Bettlaken, Tischtücher und Hemden mussten von der Leine, bevor sich der graue Schleier aus der Luft auf sie legen konnte. „Zeche Holland“ bestimmte das Stadtbild. Ihre zwei Fördertürme ragten über die Stadt hinaus. Die Kohle brachte Geld und Arbeitsplätze. Und was der Bergbau nicht schaffte, das schaffte Klaus Steilmann. Europas größter Textilunternehmer gab Hunderten Näherinnen Arbeit – und auch den Halbprofis von Wattenscheid 09.
1970 lag die Arbeitslosenquote bei 0,8 Prozent. Es gab eine adrette Innenstadt mit dem inhabergeführten Herrenausstatter, es gab zwei Kinos und ein großes Horten-Kaufhaus am Ende der Fußgängerzone. All das ist verschwunden. 1974 war Schicht im Schacht. Nachdem Wattenscheid seine Zeche verloren hatte, verlor die Stadt ein Jahr später auch noch ihre Unabhängigkeit und wurde von Bochum eingemeindet. 1977 machte Horten zu, auch die Kinos sind schon lange Vergangenheit. Steilmann ist pleite, Wattenscheid 09, einst erstklassig im Fußball, spielt jetzt in der Regionalliga West, die Arbeitslosenquote in Wattenscheid-Mitte liegt nun bei 15,3 Prozent. Der Förderturm der denkmalgeschützten Zeche wird saniert, ein Kulturzentrum soll entstehen. Das ist schön, doch eines wäre noch schöner: Jobs für die Menschen – über Tage. Heike Jahberg
Schutzpatronin von Wattenscheid ist die heilige Jungfrau Gertrud von Nivelles, ebenfalls zuständig für Katzen, Reisende, Pilger, Arme, Witwen und Gärtner
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