Nordrhein-Westfalen: Abstiegskampf im Ruhrpott
Die Stahl- und Energiekrise macht Nordrhein-Westfalen zum Schlusslicht in Deutschland – doch es gibt auch positive Zeichen.
Hannelore Kraft wirkte selten so entspannt. Eine Stunde hat sie das Programm zur Feier des 70. Geburtstags von Nordrhein-Westfalen präsentiert, anschließend gibt sie unentwegt lächelnd eine Reihe von Interviews. „Ich weiß, wie toll dieses Land ist“, flötet sie in die Kameras, „und möchte das auch anderen zeigen“. Selbst kritische Fragen können sie an diesem Vormittag nicht aus dem Konzept bringen. „In vielen Bereichen sind wir Spitze“, gibt sie vor, fügt dann aber hinzu, „nicht in allen, da müssen wir nacharbeiten“. In diesem Moment hat sie vermutlich die Rauchschwaden der Braunkohlemeiler im niederrheinischen Revier gesehen, die wenige Kilometer westlich von ihrer Staatskanzlei zwar noch jede Menge Strom erzeugen, aber dem Betreiber RWE nur noch Verluste einbringen. Und sie erinnern daran, wie viele Baustellen es aktuell im größten Bundesland gibt. „Nullwachstum in Nordrhein-Westfalen“, hieß es kürzlich, und seither ziehen schwarze Wolken über dem rot-grünen Regierungshimmel in Düsseldorf auf.
Die Oppositionsführer im Landtag nutzen die Zahlen zum Frontalangriff auf Kraft
Die beiden Oppositionsführer im Landtag lassen sich diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen, sie nutzen die katastrophalen Zahlen für einen Frontalangriff auf die seit sechs Jahren regierende Ministerpräsidentin. „Das ist ein schwarzer Tag für NRW“, schimpfte CDU-Chef Armin Laschet, und Christian Lindner, der liberale Spielführer in Düsseldorf, fügte süffisant hinzu, „das ist das Ergebnis der grünen Verhinderungspolitik“. Hannelore Kraft reagiert auf diese Kritik inzwischen dünnhäutig. „Das hat doch nichts mit Landespolitik zu tun“, ruft sie empört zurück, dringt damit aber nur noch begrenzt durch.
Nordrhein-Westfalen kämpft mit Problemen in vielen Wirtschaftszweigen
Dabei kann man den Befund nicht bestreiten. „NRW verliert den Anschluss“, urteilt Wirtschaftsforscher Roland Döhrn vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung aus Essen. Fast überall hat das Land demnach Probleme: „bei der Industrieproduktion, bei den Auslandsaufträgen und in der Bauwirtschaft“, analysiert Döhrn. Trotzdem hatte das Land in den ersten Jahren des aktuellen Jahrzehnts beim Wachstum fast zum Rest der Republik aufschlossen, der Einbruch im vergangenen Jahr kam allerdings mit Ansage. „Die Energiewende, aber auch der Abbau der regionalen Energiemonopole treffen NRW viel stärker als andere Länder“, urteilt Döhrn.
RWE und Eon bauen derzeit Arbeitsplätze ab
RWE und Eon haben die Energiewende verschlafen und bauen zurzeit massiv Arbeitsplätze ab, hinzu kommen die Verwerfungen am Stahlmarkt, die Unternehmen wie Thyssen-Krupp in Bedrängnis bringen. Das Ende von Opel im Bochum ist ein weiterer Wachstumskiller. Die Probleme bündeln sich vor allem im Ruhrrevier und überlagern die anderen Landesteile, in denen fast Vollbeschäftigung herrscht. Die ungerechte Finanzierung der Energiewende trifft das größte Bundesland besonders. „Aus NRW fließen im Moment pro Jahr drei Milliarden Euro in andere Bundesländer, das ist ein zusätzlicher Kaufkraftverlust“. Hannelore Kraft formuliert es drastischer: „Der von Arbeitslosigkeit bedrohte Stahlarbeiter in Duisburg bezahlt dem Eigenheimbesitzer in Bayern und Baden-Württemberg seine Solaranlage auf dem Dach“.
Der Duisburger Stadtteil Marxloh ist ein Spiegel der schwierigen Lage
Wer sich in Duisburg-Marxloh abseits der Hauptstraße umschaut, bekommt einen Eindruck von der schwierigen Lage. Der Stadtteil hatte sich in den zurückliegenden Jahren stabilisiert, die vielen Fördermillionen halfen den türkischen Zuwanderern, Erfolgsgeschichten zu schreiben. Häuser wurden renoviert, mehr und mehr Kinder schafften den Schulabschluss – bis die neuen Armutsflüchtlinge vom Balkan ausgerechnet in den Duisburger Norden kamen. Pater Oliver erlebt das jeden Donnerstag vor seinem Pfarrhaus. Hunderte Menschen drängen sich vor seiner Tür, weil er medizinische Versorgung für jene anbietet, die keine Krankenkasse haben. Alleine 2000 Menschen brauchen seine Hilfe; in Duisburg sollen 12 000 Menschen ohne Krankenversicherung leben. „Das können wir nicht schaffen“, klagt Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link, doch bisher hat niemand in Berlin seine Hilferufe erhört. Inzwischen ziehen jene aus Marxloh weg, die ihren bescheidenen Wohlstand gefährdet sehen und setzen damit eine Abwärtsspirale in Gang, die man in verschiedenen Stadtteilen des Ruhrreviers beobachten kann.
Das Ruhrgebiet wandelt sich
Hinter diesen Bildern verblassen die Fortschritte, die es in Duisburg, aber auch in anderen Teilen der alten Industriegebiete an der Ruhr gibt. Der Duisburger Hafen entwickelt sich zur Arbeitsplatzmaschine, auf dem alten Krupp-Gelände in Duisburg-Rheinhausen sind heute mehr Menschen beschäftigt, als es beim legendären Arbeitskampf 1987/88 waren. Was in Duisburg passiert ist, ist die Blaupause für viele Stadtteile des Ruhrreviers. „Hier gibt es nicht Wandel, hier gibt es Brüche“, erklärt Rasmus Beck, der als eine Art oberster Wirtschaftsförderer die Lage des Reviers analysiert, „aber dann kommt eben jene Menge Neues, und damit unterscheiden wir uns von vielen anderen Regionen dieser Welt, die den Strukturwandel nicht geschafft haben“.
Seit 2010 sind in der Region 100000 sozialversicherungspflichtige neue Jobs entstanden
Natürlich wird der Mann für seinen Optimismus bezahlt, aber er kann auch interessante Zahlen liefern. „2015 sind 17 000 neue Arbeitsplätze entstanden, seit 2010 bald 100 000 sozialversicherungspflichtige neue Jobs“, rechnet er vor. Solche Erfolge verblassen allerdings hinter den schlechten Meldungen über das Ende von Opel oder Nokia in Bochum, sie prägen international das Bild bei jenen, die nur die Schlagzeilen wahrnehmen. „In Bochum arbeiten in der Gesundheitsindustrie inzwischen 24 000 Menschen, so viele hatte Opel nicht einmal zur besten Zeit“, argumentiert er. Es handelt sich allerdings um neue Arbeitsplätze für Menschen mit höheren Qualifikationen. „Daher verfestigt sich die Langzeitarbeitslosigkeit unter jenen, die Defizite haben“, stellt Beck fest.
Die neuen Arbeitsplätze erfordern eine bessere Ausbildung
Die neuen Jobs erfordern eine bessere Ausbildung, die Politik hat reagiert. Die Zahl der Studienplätze ist seit 2007 um 70 Prozent gestiegen, inzwischen gibt es 280 000 junge Menschen an den Universitäten zwischen Duisburg und Dortmund. „NRW hat da eine Menge zu bieten“, urteilte kürzlich Joe Kaeser, der Siemens-Chef, bei einem gemeinsamen Auftritt mit Hannelore Kraft, die solches Lob aus dem Munde eines Wirtschaftsführers kaum erwartet hatte. „Hier gibt es erstklassig ausgebildete Arbeitnehmer“, fügte er noch hinzu und zeigte sich auch optimistisch, dass der Wandel unter dem Stichwort Industrie 4.0 gelingen kann, was Wissenschaftler dem Revier kürzlich bestätigt haben.
In den Rathäusern herrscht Konkurrenzdenken
Solche Dinge sind selbst im Revier oft nicht bekannt. In den Rathäusern herrscht Konkurrenzdenken, man kooperiert zu wenig. „Da ist noch viel Luft nach oben“, sagt Burkhard Drescher. Der Mann war Oberbürgermeister von Oberhausen, später Chef der Gagfah, eines Immobiliengiganten. Inzwischen ist er das Gesicht von Innovation City, einer Initiative der Ruhrwirtschaft. Die Manager zeigen gerade, wie man Klimawandel schaffen kann und haben Bottrop geholfen, die weltweit höchste Quote bei der Gebäudesanierung zu schaffen. Sogar der neue Schalke-Manager Christian Heidel hat sich von dem schlechten Image der Region nicht abhalten lassen, er wird im Sommer nach Essen ziehen. „Sehr viel Grün, sehr gute Infrastruktur, viele nette Restaurants“, lautete sein erstes Urteil, nachdem er sich selbst ein Bild gemacht hatte. Vielleicht sollte ihn Rasmus Beck als neuen Botschafter gewinnen.
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