Mobilitätsversprechen: Das Reisechaos zum Fest
Probleme bei der Deutschen Bahn, Niki-Pleite, Streiks bei Ryanair? Kurz vor dem Weihnachtsfest bricht die Tourismuswirtschaft ihr Versprechen einer fast grenzenlosen Mobilität. Ein Kommentar.
Die Gelehrten sind sich weitgehend einig: Jesus von Nazareth wurde nicht Ende Dezember geboren, sondern wahrscheinlich im September. Da war die Ernte eingefahren, das Wetter am Mittelmeer aber noch gut genug, um eine Volkszählung durchzuführen. Die Römer, Meister der Bürokratie, hätten ihre Bürger nie über kalte Matschpisten in die Geburtsstätten beordert. Gleichwohl feiern heute Milliarden Menschen der nördlichen Hemisphäre Jesu Geburt, also Weihnachten, im tiefsten Winter. Und die damit verbundene globale Reisewelle war so auch nie vorgesehen.
Es ist also ein Missverständnis der Geschichte, dass die Menschen heute mehr oder weniger kollektiv das Bedürfnis verspüren, ihre Familien zum 24. Dezember unter einem Baum zu versammeln. Das wird jedes Jahr eine größere logistische Herausforderung, da die Familien zunehmend heute nicht über ein paar Dörfer, sondern über Länder, mitunter über Kontinente verstreut leben.
Anspruch und Realität: Die Kluft könnte kaum größer sein
In diesem Jahr könnte die Kluft zwischen den globalen Mobilitätsversprechen der Reiseindustrie und der Realität kaum größer sein. Da ist die Pleite von Air Berlin, die mit der nun eingereichten Insolvenz ihrer Ferienflugtochter Niki kurz vor dem Fest noch eine Zuspitzung erfahren hat: Weitere 410.000 Tickets sind wertlos, rund 15.500 davon betreffen Flugreisen zum Fest. Dazu kommen die Streikankündigungen europäischer Pilotengewerkschaften gegen die irische Ryanair, der – gemessen an der Passagierzahl – größten Airline Europas.
Nicht zu vergessen die Deutsche Bahn, die mit ihrem eigenen Fahrplanwechsel hadert, von den Ausfällen auf ihrer neuen Hochgeschwindigkeitstrasse von Berlin nach München ganz zu schweigen. „Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Fahr lieber mit der Bundesbahn.“ Niemand im Berliner Bahn-Tower würde heute auf die Idee kommen, diesen 1966 erstmals plakatierten Werbeslogan zu recyclen.
Zu Goethes Zeiten war mancher Brief schneller da
Fortschritt in der Reise-, Transport- und Logistikbranche ist leider relativ, er bemisst sich nicht automatisch nach dem nächstliegenden Kriterium: der Zeit. Man sagt, dass ein Standardbrief aus Italien zu Goethes Zeiten in den 1780er Jahren deutlich schneller in Deutschland ankam als heute. Früher waren wir schon mal weiter. Klar, heute schlagen Kurierfahrer, Expresstarife und E-Mails jede Postkutsche – aber in diesen Tagen, in denen eine extrem große Nachfrage auf ein außergewöhnlich kleines Angebot trifft, wird einem die Hybris der modernen Menschen bewusst: In einem biomedizinischen Hightechlabor können sie Gene zerschneiden und neu zusammenfügen. Computer berechnen so viele Nachkommastellen der Zahl Pi, dass kein Menschenleben genügt, um sie alle aufzusagen. Aber bei der reibungslosen Steuerung komplexer sozialer Organismen, einem Großunternehmen Air Berlin oder Bahn, wird es kompliziert. Wenn dann noch Schnee fällt oder ein Sturm bläst, wird es umso schwerer.
Die moderne Welt braucht fließenden Verkehr, geschlossene Logistikketten, Tempo, Tempo. Zeit ist Geld. Das klingt abgedroschen, es ist aber so. Deshalb takten Transportunternehmen ihre Fahrpläne enger, warten ihr Gerät schneller, um „besser“ zu sein als die Konkurrenz. Da bleiben auch Firmen auf der Strecke. Doch es gibt Grenzen des Wachstums, der Globalisierung. Dass viele Reisewillige dies gerade in diesen Tagen so unmittelbar erfahren, ist nicht witzig, aber auch eine Botschaft zum Fest.