Technikprobleme und Fahrplanwechsel: Chaostage bei der Deutschen Bahn
Die Pannenserie reißt nicht ab. Fehler in der neuen Signaltechnik beeinträchtigen weiter die neue Rennstrecke Berlin-München.
Richard Lutz strahlt über das ganze Gesicht, als er zum Mikrofon greift: „Wir sind endgültig im digitalen Eisenbahnzeitalter angekommen“, sagt der Bahn-Chef. Er steht im Großraumwagen des ICE, der auf der Neubaustrecke VDE 8.1 unterwegs ist, dem letzten Teilstück der neuen Rennstrecke von Berlin nach München. Es ist Mitte Juni und in einem halben Jahr sollen die Züge mit Tempo 300 in vier Stunden von Stadt zu Stadt rollen – geleitet von neuer Signaltechnik. „Interessant ist, was Sie nicht sehen“, sagt Lutz und meint das europäische Zugbeeinflussungssystem ETCS. Diese Technik sei ein Grund, „warum wir von einem historischen Fortschritt sprechen“, freut sich der Bahn-Chef. Das größte Infrastrukturprojekt in der Geschichte der Deutschen Bahn habe „die besten und innovativsten Lösungen, die Bauingenieurskunst und Bahntechnik derzeit bieten“.
Kurz vor Weihnachten ist aus den vermeintlichen Lösungen ein massives Problem geworden. Auf der zehn Milliarden Euro teuren Vorzeigestrecke erlebt der bundeseigene Schienenkonzern seit dem Wochenende ein Fiasko. Seit der feierlichen Eröffnung der Strecke am vergangenen Freitag häufen sich Pannen, Verspätungen, Zugausfälle – verursacht offenbar von Fehlern im hochgelobten ETCS. Vergrößert wurde das Chaos vom Fahrplanwechsel und dem Schneefall.
"Das ist nichts Großes"
Techniker-Teams des Bahntechnikkonzerns Alstom, der das ETCS-System installiert hatte, sind seit Freitag an der Strecke im Einsatz, um zusammen mit Bahn- Mitarbeitern die Fehler im System zu beheben. Alstom sicherte eine „zügige Bearbeitung“ zu. „Die aktuell auftauchenden Themen sind nicht generisch.“
Beschwichtigend hieß es im Umfeld: „Das ist nichts Großes.“ Es handele sich um „Kinderkrankheiten“ der komplexen Technik. Alstom hatte die ICE-Hochgeschwindigkeitsflotte, die auf der VDE 8-Strecke fährt, mit seiner Bordsignaltechnik auf ETCS-Standard ausgerüstet. Doch von Kinderkrankheiten kann nicht die Rede sein, denn der neue Fahrplan kam auch am Dienstag – am fünften Tag in Folge – noch durcheinander. Der ICE, der um 7.38 Uhr vom Berliner Hauptbahnhof nach München fahren sollte, fiel aus.
Viele Fahrgäste berichteten von einem großen Durcheinander, andere zeigten sich gelassen. Johannes Marx zum Beispiel hatte Glück. Statt des Pannenzugs hatte er die Folgeverbindung gebucht. Mit an Bord einige Reisende, die eigentlich früher fahren wollten. Die Stimmung unter den Berufspendlern, erzählt Marx, sei aber entspannt gewesen. Die Erleichterung darüber, dass die neue Strecke im Vergleich zum alten Fahrplan mehrere Stunden Fahrzeit spart, überwiegt. Auch bei Marx. Für den Weg von Berlin nach Bamberg, den er regelmäßig fährt, brauchte er früher über vier Stunden, jetzt geht es in zweieinhalb Stunden. Am Dienstag ist sein Zug sogar fünf Minuten zu früh in Bamberg – fast als wolle er die Panne seines Vorgängers wettmachen.
Die Bahn hat mehr als 1000 Testfahrten absolviert
Auch Geschäftsreisende, die die Bahn mit der Schnellstrecke vom Flieger auf die Schiene holen will, üben sich in Geduld. Beim Geschäftsreisendenverband VDR geht man davon aus, dass die Kinderkrankheiten bald behoben sind, von Stornierungen weiß man nichts. „Wenn es reibungslos läuft, ist das eine gute Alternative zum Flugzeug“, sagte ein VDR-Sprecher.
Auch der grüne Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel strandete am Sonntag auf der Schnellstrecke. Der Bahnexperte kam mit dreieinhalbstündiger Verspätung in Berlin an. „Das war extrem, es ging wirklich alles durcheinander“, sagte er. Bahn-Mitarbeiter hätten das Chaos mit Fehlern im ETCS des Zuges erklärt. „Offenbar ist das System nicht ausreichend und nicht mit allen Zügen getestet worden“, sagte Gastel. Die Bahn hatte von mehr als 1000 Testfahrten berichtet. Der Probebetrieb lief seit August. Im November hatte es ein Update für die Computersprogramme gegeben – dies führte offenbar zu Problemen.
Deutschland hinkt bei der Technik hinterher
ETCS (European Train Control System) überwacht und steuert die Zugfahrten ohne ortsfeste Signale. Die Informationen erhält der Lokführer per Funk. Der Vorteil: Durch das „vorausschauende Fahren“ erhöht sich die Streckenkapazität um etwa ein Drittel. Zweiter Vorteil: Mit einem einheitlich System können Züge Grenzen überwinden, ohne die Lok wechseln zu müssen. Bisher gibt es in fast jedem Land eine andere Sicherungstechnik, für die die Loks dann ausgerüstet sind.
Während die ETCS-Technik in Länder wie der Schweiz schon weit verbreitet ist, hinkt Deutschland hinterher. Jahrelang hatte sich die Bahn gegen die Umstellung gewehrt und auf ihr nationales „Linienzugbeeinflussungssystem (LZB)“ gesetzt, das ausgereift ist. Die Informationen werden induktiv von einem zwischen den Schienen angebrachten Kabel übertragen. Dem europäischen Standard konnte sich aber die Bahn nicht auf Dauer verweigern.
So ist der Ende 2015 eröffnete Neubauabschnitt zwischen Halle/Leipzig und Erfurt mit der ETCS-Technik ausgestattet worden. Matthias Gastel zufolge hatte es damals bereits technische Probleme gegeben. „Daraus hat man offenbar nicht gelernt“, sagte der Verkehrspolitiker.
Managementprobleme im Fernverkehr
„Ich wundere mich, da fehlt jede vernünftige Erklärung“, sagte Christian Böttger, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, zu der jüngsten Pannenserie. Neben den technischen Schwierigkeiten offenbare die Deutsche Bahn wie so oft Managementprobleme. „Der Fernverkehr wird seit Jahren nicht gut geführt“, glaubt Böttger. Dünne Ressourcen, unklare Verantwortlichkeiten, zu viele Berater, diffuse politische Rahmenbedingungen – zahlreich seien die Baustellen in diesem Geschäftsgebiet. Dabei waren Birgit Bohle, die Chefin des DB Fernverkehrs, und Personenverkehrsvorstand Berthold Huber mit Schwung gestartet. Die Pünktlichkeit und der Service verbesserten sich, der Vorrat an kundenfreundlichen Innovationen ist nach wie vor groß. „Auch Bahn-Vorstandschef Lutz hat versucht, Ruhe in den Konzern zu bringen“, sagt Böttger. Doch in den vergangenen Monaten häuften sich wieder die Pannen, inzwischen ist – auch witterungsbedingt – wieder mehr als jeder vierte Zug im Fernverkehr unpünktlich, die Probleme gipfelten im holprigen Fahrplanwechsel und der verpatzten Eröffnung der Schnellstrecke Berlin-München.