Milizen für Libyen, Geheimagent für Russland?: Das Doppelleben des Jan Marsalek
Mit jedem neuen Detail wird der Fall Wirecard vom Wirtschafts- zum Spionagekrimi. Der mutmaßliche Bilanzbetrug war wohl nur ein Nebenprojekt des Ex-Vorstands.
Es geschah wohl bei einem konspirativen Treffen im Februar 2018 in der Münchener Prinzregentenstraße, dass auch Vertraute Jan Marsaleks angesichts dessen Kontakten zum russischen Militärgeheimdienst GRU erschraken. Hochrangige österreichische Beamte und ehemalige Diplomaten hatte der damalige Wirecard-Vorstand in seine Villa vis-a-vis des Russischen Generalkonsulats geladen, berichtet die „Financial Times“. Doch einer der Gäste erregte demnach bei den anderen Unbehagen.
Es war Andrej Tschuprygin, Arabist und Dozent an der Moskauer Hochschule für Wirtschaft. Westliche Geheimdienste sehen in ihm keinen harmlosen Hochschullehrer, sondern einen ehemaligen ranghohen GRU-Offizier.
Es wird vermutet, er unterhalte enge Kontakte zu der Behörde, die wahlweise mit dem Giftanschlag auf den übergelaufenen russischen Ex-Spion Sergej Skripal, dem paramilitärischen Krieg in der Ostukraine, dem Abschuss des Flugzeugs MH17 oder der Manipulation der US-Wahl 2016 in Verbindung gebracht wird.
Bei diesem Treffen sollte es laut „FT“ eigentlich um den humanitären Wiederaufbau Libyens gehen. Doch es sei deutlich geworden, dass Marsalek ganz andere Interessen verfolgte.
War die Bilanzfälschung nur ein Nebenprojekt?
Inzwischen ist der 40-jährige Ex-Vorstand von Wirecard abgetaucht. Seit Anfang Juli fehlt jede Spur von ihm; er wird weltweit von Interpol gesucht. Denn er gilt als Drahtzieher des Wirecard-Skandals, bei dem die Bilanzen des Zahlungsdienstleisters um 1,9 gar nicht existierende Milliarden Euro aufgebläht wurden.
Und je mehr Details über Marsalek und seine Flucht bekannt werden, desto deutlicher wird, dass aus dem Wirtschaftskrimi rund um den Dax-Konzern ein waschechter Spionage-Krimi werden könnte. Denn die mutmaßliche Bilanzfälschung bei Wirecard könnte nur ein lukratives Nebenprojekt in Marsaleks Plänen gewesen sein.
Eine Miliz für Libyen
An Libyen hatte er schon seit einigen Jahren Interesse. Seit 2015 investierte Marsalek Geld in Projekte vor Ort, dem Vernehmen nach unter anderem Geld in drei Zementfabriken im Osten des Landes. Er wolle am Wiederaufbau des Landes nach dem Bürgerkrieg mithelfen, hieß es offiziell.
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Doch es verdichten sich die Hinweise, dass er ein „militärisches Konversionsprogramm“ starten wollte, das 15.000 bis 20.000 libysche Milizionäre zu Grenzbeamten ausbilden solle. Jene sollten dann Migrationsströme aus dem südlichen Afrika aufhalten, wie die „FT“ berichtet. Auch hier dachte er wohl aus Moskaus Perspektive. Laut Investoren wollte Marsalek, dass Moskau der EU seine Idee zur Grenzsicherung als Lösung der Migrationspolitik verkaufen könne.
Schon seit Jahren übt Russland nach Ansicht vieler westlicher Geheimdienste militärisch und mit Söldner-Truppen verdeckt Einfluss in Libyen aus. Zimperlich wollte er dabei wohl nicht vorgehen. Teilnehmer des Treffens in München berichteten der „FT“, wie er sich ein extrem gewalttätiges Video einer Körperkamera vor Ort angesehen hätte und über die Versendung von „Equipment“ gesprochen habe.
Tschuprygin will davon nichts wissen. Er bestätigte dem Blatt zwar seinen Kontakt zu Marsalek, habe mit ihm aber lediglich in seiner Funktion als Forscher und Sprachwissenschaftler gesprochen.
„Er mag es, dir davon zu erzählen“
Dass diese und immer weitere Episoden aus Marsaleks Wirken an die Öffentlichkeit gelangen, hat wohl auch damit zu tun, dass der Österreicher zwar undurchsichtig und geheimnisvoll agierte, gleichzeitig aber Anerkennung suchte. „Das Einzige, das er noch mehr zu mögen schien als Geheimnisse zu haben und in all diese Dinge involviert zu sein, war, dir davon zu erzählen“, wird ein Vertrauter zitiert.
Marsalek stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Geboren in Wien schmiss er fünf Monate vor der Matura die Schule und begann stattdessen bei Start-ups als Programmierer zu arbeiten. Mit 20 Jahren kam er zur Vorgängerorganisation von Wirecard. Damit hat er sein halbes Leben in dem Unternehmen verbracht. Mehr als der langjährige CEO Markus Braun, wie er gerne betont.
Sein Büro in der Wirecard-Zentrale in Aschheim maß rund 110 Quadratmeter und bot damit unter anderem Platz für eine Matroschka-Puppe mit Putin-Gesicht, russische Pelzmützen und Wodkaflaschen sowie ein lebensgroßer Pappaufsteller von Donald Trump. Es war wohl dieser Kosmos, in den er selbst vorstoßen wollte. Das zeigt auch eine Episode aus dem Münchener Restaurant Käfer-Schänke von 2017. Dort soll er damit geprahlt haben, mithilfe des russischen Militärs nach Palmyra in Syrien gereist zu sein. Mit „den Boys" habe er dort eine großartige Zeit gehabt – direkt nachdem diese den sogenannten „Islamischen Staat“ dort vertrieben hatten.
Die filmreife Flucht Marsaleks
Es ist gut möglich, dass ihm diese Kontakte bei seiner Flucht behilflich waren und sind. Er habe mehrere Pässe, schrieb Marsalek einem Bekannten in einem SMS-Chat, über den das „Handelsblatt“ berichtete. „Wie jeder gute Geheimagent.“ Laut dem Recherchenetzwerk „Bellingcat“ ist auch ein Diplomatenpass dabei. Entsprechend schwer ist seine Flucht für die Behörden zu verfolgen.
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Einen Tag nach seiner Freistellung bei Wirecard wird laut dem „Spiegel“ am Flughafen im weißrussischen Minsk die Einreise eines Jan Marsaleks per Privatjet verzeichnet. Vier Tage später kommt ein Mann mit demselben Namen auf den Philippinen in Manila an. Am nächsten Morgen fliegt er demnach auf die Insel Cebu. Es kursiert ein Foto, das ihn in T-Shirt, Bermudas und Turnschuhen zeigt. Seinem SMS-Kontakt schreibt er damals, er wolle am Wochenende nach München zurückkehren und sich der Staatsanwaltschaft stellen.
Ob Marsalek sich tatsächlich an irgendeinem dieser Orte aufgehalten hat, ist allerdings völlig unklar. Am 4. Juli erklärte der philippinische Justizminister Menardo Guevarra, philippinische Einwanderungsbeamte hätten die Daten, die Marsaleks Einreise belegen sollten, gefälscht. Auch das Foto war gefälscht. Der SMS-Kontakt hat seit dem 30. Juni ebenfalls nichts mehr von Marsalek gehört.
Ein Todesfall auf den Philippinen
Die Spur nach Fernost war wohl nur eine falsche, von Marsalek gelegte Fährte. Darauf versteht er sich gut. Schließlich war es ihm auch gelungen, dass deutsche Behörden nach Bekanntwerden erster Ungereimtheiten mit Wirecards Bilanz gegen die „FT“-Journalisten ermittelten, die den Skandal aufgedeckt hatten, statt gegen Wirecard. Über Jahre schaffte er es, das Narrativ aufzubauen, Spekulanten und Journalisten würden den Dax-Aspiranten und späteren Dax-Neuling mit abgesprochenen Wetten an der Börse ruinieren wollen.
Auch wenn die fehlenden 1,9 Milliarden Euro wohl nie auf den Philippinen waren, zieht der Skandal dort weitere Kreise. Wie das „Handelsblatt“ am Donnerstag berichtete, ist der ehemalige Asienchef, Christopher B., in Manila verstorben. Die Todesursache des 44-Jährigen ist nicht bekannt. Wirecard-Insider berichten der Zeitung zufolge, soll B. ein wichtiger Kontaktmann Marsaleks gewesen sein.
Gerüchteweise ist von Hunderten Kilo Bargeld die Rede, die Marsalek auf die Philippinen verschafft haben soll.
B. arbeitet schon einige Jahre nicht mehr bei Wirecard, sondern führt selbst zwei Zahlungsdienstleister und ein Busunternehmen auf den Philippinen. Hier ermittelten laut „Handelsblatt“ sowohl die Bundespolizei als auch eine Anti-Geldwäsche-Einheit gegen B. Seine Familie glaubt an eine natürliche Todesursache.
Ist Marsalek inzwischen in Russland?
Über den tatsächlichen Aufenthalt Marsaleks gibt es verschiedene Spekulationen. Nach Informationen des „Handelsblatts“ soll er auf einem Anwesen westlich von Moskau unter Aufsicht des GRU untergebracht sein. Laut „Bellingcat“ führt seine Spur nach Weißrussland. Es heißt, Marsalek sei in Witebsk nahe der Grenze zu Russland gewesen.
Weitere Recherchen des Magazins untermauern die Nähe Marsaleks zu Russland. Rund 60 Mal soll er in den vergangenen zehn Jahren dorthin gereist sein, meist für weniger als 24 Stunden. Als er einmal fast eine Woche lang blieb, wurde seine Abreise mit dem Privatflugzeug vom Grenzschutz, der dem Geheimdienst FSB untersteht, aus bislang unbekannte Gründen verhindert.
Laut „Bellingcat“ ist er zudem mit sechs verschiedenen österreichischen Pässen sowie mit anderen Dokumenten, die aus den Listen der russischen Einwanderungsbehörde gelöscht wurden, eingereist. Den Angaben zufolge führte der FSB zudem genau Buch über jede internationale Flugreise Marsaleks. Es wird daher spekuliert, dass er im Jahr 2015 ein „Arbeitsverhältnis“ mit dem Geheimdienst einging oder er entweder als potentiell anzuwerbender Agent überwacht wurde.
Es steht jedoch auch die Möglichkeit im Raum, dass er mit dem GRU kooperierte, der mit dem FSB konkurriert, und deshalb auf dessen Beobachtungsliste stand.
In Wien soll Marsalek dann Informationen, die er aus Geheimdienstkreisen erfahren hatte, an die rechtspopulistische FPÖ weitergegeben haben. Dem Verein „Österreichisch-Russische Freundschaftsgesellschaft“ spendete Wirecard jährlich zwischen 10.000 und 20.000 Euro. Marsalek und Braun waren dort laut „FAZ“ Ehrensenatoren.
Über diesen Verein soll Marsalek die FPÖ auch mit Informationen aus dem österreichischen Innenministerium und den Inlandsgeheimdienst BVT versorgt haben. Doch was hatte er davon? Klar ist vor allem eines: Auserzählt ist dieser Krimi noch nicht.
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