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Das deutsche Dax-Unternehmen Wirecard meldete im Juni 2020 Insolvenz an. Seitdem ist Jan Marsalek auf der Flucht.
© AFP

Die spektakuläre Flucht des Wirecard-Managers: Er hatte mehrere Pässe – „wie jeder gute Geheimagent“

Jan Marsalek soll sich in Russland aufhalten, allem Anschein nach kooperiert er mit dem russischen Geheimdienst. Die ganze Geschichte ist filmreif. Ein Überblick.

Die Geschichte von dem Österreicher Jan Marsalek, bis Juni noch Vorstand für Operative Geschäfte beim insolventen Konzern Wirecard, ist filmreif. Als Wirecard-Vorstand Markus Braun am 18. Juni in einer Videobotschaft erklärte, dass das gefeierte Dax-Unternehmen 1,9 Milliarden Euro erfunden und Jahresbilanzen frisiert hatte, setzte sich Jan Marsalek ab. Seitdem ist er auf der Flucht.

In der Zwischenzeit ist die Wirecard-Insolvenz ein Politikum in Deutschland geworden. Olaf Scholz und sein Staatssekretär sollen von den Ungereimtheiten gewusst haben. Karl-Theodor zu Guttenberg setzte sich mit seiner Beratungsfirma bei der Bundesregierung für Wirecard ein.

Und nachdem der „Spiegel“ berichtet hatte, dass sich das Kanzleramt bei einer Chinareise von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für Wirecard eingesetzt hatte, teilte nun die Bundesregierung mit: Angela Merkel „hat es angesprochen“. Die Bundesregierung ist in Erklärungsnot.

Was wir bisher über Jan Marsalek und seine Flucht wissen

Aktuellen Recherchen des „Handelsblatts“ zufolge befindet sich Marsalek nahe Moskau, zuvor flog er über Tallinn nach Minsk – bis es dem GRU, dem russischen Militärgeheimdienst, mutmaßlich zu riskant wurde und er Marsalek unter seine Obhut brachte.

Marsalek hatte nachweislich Verbindungen zum russischen Geheimdienst und reiste seit 2015 etliche Male nach Moskau, St. Petersburg und Nizhny Novgorod. Querverbindungen führen auch nach Libyen und nach Wien zum österreichischen Rechtspopulisten Johann Gudenus. Aber von vorne:

Nach dem Knall – Phantomreise auf die Philippinen:

Der Flughafen von Manila, wo Marsalek, wie sich herausstellte, im Juni gar nicht landete.
Der Flughafen von Manila, wo Marsalek, wie sich herausstellte, im Juni gar nicht landete.
© REUTERS
  • Am 18. Juni 2020 wurde Jan Marsalek von Wirecard freigestellt. Wenige Stunden später war er abgetaucht, seine Kollegen sahen ihn an diesem Tag zum letzten Mal. Er erzählte ihnen, er würde auf die Philippinen reisen, um sich auf die Suche nach den fehlenden 1,9 Milliarden Euro zu machen und seine Unschuld zu beweisen. Tatsächlich sollten Flugbuchungen und Ein- sowie Ausreisedaten der philippinischen Einwanderungsbehörde beweisen, dass Marsalek auf die Philippinen geflogen war. Demnach soll er am 23. Juni in Manila angekommen sein und am 24. Juni nach China weitergereist sein.
  • Doch es fielen Ungereimtheiten auf: Marsalek war weder auf Aufnahmen von Überwachungskameras zu sehen, noch hatten Fluggesellschaften seinen Namen auf Passagierlisten verzeichnet. Am 4. Juli erklärte der philippinische Justizminister Menardo Guevarra dann: Philippinische Einwanderungsbeamte hatten die Daten, die Marsaleks Einreise belegen sollten, gefälscht. Die Beamten wurden von ihren Aufgaben entbunden, gegen sie wird nun ermittelt. Wie viele Mitarbeiter an der Fälschungsaktion beteiligt waren, ist nicht bekannt.

Wien, Ibiza und Moskau:

Der Ibiza-U-Ausschuss tagt zum Regierungsskandal in Österreich, der im Mai 2019 zum Bruch der Regierungskoalition führte.
Der Ibiza-U-Ausschuss tagt zum Regierungsskandal in Österreich, der im Mai 2019 zum Bruch der Regierungskoalition führte.
© dpa
  • Marsalek arbeitete Recherchen von „Spiegel“ und „Bellingcat“ zufolge mit der FPÖ, der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs, zusammen. Über die „Österreichisch-Russische-Freundschaftsgesellschaft“ belieferte er Parteifunktionäre mit sensiblen Dokumenten, die Marsalek offenbar aus dem österreichischen Innenministerium und den Inlandsgeheimdienst BVT erhalten haben muss.
  • Konkret gingen die Informationen an Johann Gudenus, seit 2017 geschäftsführender Klubobmann der FPÖ im Nationalrat. Im Mai 2019 trat Gudenus wegen der „Ibiza-Affäre“ zurück und verließ die Partei. Laut „Spiegel“ belegen nun Dokumente aus dem laufenden Ibiza-Untersuchungsausschuss, dass Marsalek und Gudenus über Chatnachrichten im Austausch standen. Marsalek wurde darin „Jan aus dem BVT“ genannt, Gudenus bestätigte dem „Spiegel“, dass damit Marsalek gemeint war.
  • Angeblich soll Marsalek den FPÖ-Politiker regelmäßig mit Geheimdienstinformationen gefüttert haben, im Juli 2018 soll es über die politische Haltung ausländischer Staaten zu einem Flüchtlingslager gegangen sein. Marsalek bot zudem an, eine geeignete Leitung für einen neu zu schaffenden Nachrichtendienst zu finden. Im Gegenzug versprach Gudenus ihm ein Treffen mit dem Chef des österreichischen Mineralölkonzerns OMV, das aber niemals stattgefunden haben soll.

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Investitionen in Libyen und Querverbindungen nach Russland:

Bewaffnete Libyer inspizieren ein russisches Luftabwehrsystem, das von den Milizen unter Warlord Chalifa Haftar eingesetzt wurde.
Bewaffnete Libyer inspizieren ein russisches Luftabwehrsystem, das von den Milizen unter Warlord Chalifa Haftar eingesetzt wurde.
© dpa
  • Seit 2015 investierte Marsalek Geld in Projekte in Libyen. Er soll unter anderem Geld in drei Zementfabriken im Osten des Landes gesteckt haben. Er wolle am Wiederaufbau des Landes nach dem Bürgerkrieg mithelfen. Tatsächlich soll es ihm aber um ganz andere Vorhaben gegangen sein: Stattdessen wolle Marsalek ein „militärisches Konversionsprogramm“ starten, das 15.000 bis 20.000 libysche Milizionäre zu Grenzbeamten ausbilden solle. Jene sollten dann Migrationsströme an der südlichen Grenze des Landes kontrollieren.
  • Vorher holte sich Marsalek Rat und Hintergrundinformationen über Libyen bei Andrej Tschuprygin, Arabist und Dozent an der Moskauer Hochschule für Wirtschaft. Der Knackpunkt: Westliche Geheimdienste vermuten, Tschuprygin sei ein ehemaliger ranghoher Offizier beim russischen Militärgeheimdienst GRU gewesen und unterhalte weiterhin enge Kontakte zu der Behörde. Er selbst dementierte dies gegenüber dem „Spiegel“, bestätigte aber den Kontakt zu Marsalek. Er behauptete zudem, nicht genau gewusst zu haben, was Marsalek in Libyen vorhatte.

Verbindungen nach Russland:

Syrische Soldaten auf den Ruinen des Tempels von Palmyra, der Stadt, in die Marsalek behauptete, gereist zu sein.
Syrische Soldaten auf den Ruinen des Tempels von Palmyra, der Stadt, in die Marsalek behauptete, gereist zu sein.
© REUTERS
  • Marsalek soll 2017 in einem privaten Treffen damit geprahlt haben, dass er mithilfe des russischen Militärs nach Palmyra in Syrien gereist war – nach der Übernahme der Stadt durch den sogenannten Islamischen Staat.
  • 2018 soll er Geschäftspartnern in London vier streng geheime Verschlussdokumente der Organisation für das Verbot chemischer Waffen vorgelegt haben. Darin soll die gesamte Formel des Nervengifts Nowitschok gelistet sein. Das Gift, mit dem der ehemalige russische Spion und Dissident Sergei Skripal und seine Tochter im März 2018 vergiftet wurden. Im Verdacht steht der russische Militärgeheimdienst GRU.
  • Im Frühjahr 2018 soll Marsalek sieben Millionen Dollar in eine neue geplante Kryptowährung des russischen Messenger-Dienstes Telegram gesteckt haben.

Überwacht vom russischen Inlandsgeheimdienst:

  • Die aktuellen Recherchen von Bellingcat und „Spiegel" legen auch nahe, dass der russische Inlandsgeheimdienst FSB den ehemaligen Wirecard-Manager ab 2015 überwachte und seine Reisebewegungen sowie Buchungsdaten speicherte. In den gesammelten Reisedaten gäbe es allerdings Lücken – nicht alle Ein- und Ausreisen seien vollständig dokumentiert. Darunter auch Reisen nach Russland.
  • Der FSB dokumentierte nach 2016 keine Einreisen Marsaleks mehr nach Russland, obwohl dies, so der „Spiegel", nicht stimme. Das Magazin stellt mehrere Thesen dafür auf, weshalb Marsalek für den FSB von Interesse sein könnte: „Entweder hatte ihn der FSB schlichtweg als interessantes Überwachungsziel identifiziert. Oder der Geheimdienst wollte eine seiner Quellen im Auge behalten, vor allem dann, wenn Marsalek auch zu dem mit dem FSB konkurrierenden, ebenfalls russischen Militärgeheimdienst GRU in Verbindung gestanden haben sollte."

Für einige Stunden nach Moskau:

Der Rote Platz in Moskau. Ab 2014 nahmen Marsaleks Reisen nach Moskau zu.
Der Rote Platz in Moskau. Ab 2014 nahmen Marsaleks Reisen nach Moskau zu.
© AFP
  • Recherchen von „Bellingcat“ zufolge, reiste Marsalek in den letzten zehn Jahren über 60 Mal nach Russland, das erste Mal 2004. Ab 2014 reiste er öfter nach Moskau, dabei blieb er meist nicht länger als einen Tag. Ab 2016 reiste er auch in andere russische Städte, etwa nach St. Petersburg, Nizhny Novgorod und Kazan in der Republik Tatarstan. Er kam aus verschiedenen europäischen und asiatischen Hauptstädten, meist per Direktflug.
  • Am 9. September 2017 flog Marsalek erneut nach Moskau, blieb aber eine Woche. Der russische Inlandgeheimdienst FSB ließ ihn, als er wieder abreisen wollte, aber nicht gehen. Am 15. September, um 8.05 Uhr, verweigerte der FSB Marsalek aus unbekannten Gründen den Rückflug. Erst um 17.35 Uhr verließ Marsalek Russland in einem Privatjet. Für seine nächsten Reisen nach Russland würde der Ex-Wirecard-Manager von diesem Moment an nicht mehr seinen österreichischen Pass verwenden, wie „Bellingcat“ herausfand.

Drei Gesichter, neun Pässe:

  • Marsalek reiste mit sechs verschiedenen österreichischen Pässen in Russland ein, wie „Bellingcat“ berichtet. Tatsächlich erlaubt Österreich seinen Staatsbürgern den Besitz mehrerer österreichischer Pässe. Doch er soll auch andere Pässe für die Einreise nach Russland verwendet haben: Er soll laut der Investigativplattform drei weitere Pässe unter seinem Namen, aber ohne Angabe einer Nationalität, besessen haben.
  • Darunter auch einen Diplomatenpass, der an einen „Nicht-Staatsbürger“ ausgestellt wurde. Nur in wenigen Staaten der Welt werden solche Pässe ausgestellt und wenn, an Ehrenkonsuln – oder sie werden illegal verkauft. In einem Chatgespräch, das dem „Handelsblatt“ vorliegt, prahlte Marsalek sogar mit seinen Pässen: Er habe „mehrere Pässe, wie jeder gute Geheimagent. Aber keine Ahnung, ob einer davon Honorarkonsul ist. Ich lasse schon mal ein Foto von mir dafür retuschieren.“

Zwischenstopp in Minsk – „politisch stabile Lage“:

Der autoritäre weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko ist seit 26 Jahren im Amt.
Der autoritäre weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko ist seit 26 Jahren im Amt.
© dpa
  • Zurück zu Marsaleks Flucht: Recherchen des „Spiegel", der Investigativplattformen Bellingcat und The Insider sowie des US-amerikanischen McClatchy Report belegen, dass er in der Nacht zum 19. Juni über den Flughafen der Hauptstadt Minsk nach Weißrussland einreiste. Das wurde am 17. Juli 2020 bekannt.
  • Im russischen Ein- und Ausreiseregister, das auch Weißrussland umfasst, sei ein Eintrag über Marsaleks Einreise zu finden – datiert auf zwei Minuten nach Mitternacht, nur wenige Stunden nach seiner Freistellung. Marsalek soll dem Bericht zufolge dafür einen der Reisepässe, den er bereits zuvor bei Reisen an andere Ziele verwendet hatte, benutzt haben. Eine Wiederausreise sei in den Datenbanken bisher nicht verzeichnet.
  • Das deutet darauf hin, dass sich Marsalek immer noch in Weißrussland oder Russland aufhält. In den russischen Datenbanken finde sich der kryptische Hinweis „Einmalflug", eine genaue Flugnummer sei aber nicht vermerkt.
  • In Kurznachrichten schrieb Marsalek einem Vertrauten auf die Frage nach seinem Aufenthaltsort, er komme zur Not „genauso raus, wie ich reinkam". Dann soll er präzisiert haben: „im Businessjet". Seine Antwort auf die Frage, ob die politischen Verhältnisse dort, wo er sich derzeit befinde, stabil seien, soll gelautet haben: „Ja, sind immer noch dieselben Leute am Ruder wie vor 25 Jahren." Dies tritt auf den weißrussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka zu.

Unter der Obhut des GRU:

  • Das „Handelsblatt“ berichtete einen Tag nach der „Spiegel“-Recherche, dass Marsalek sich offenbar nicht mehr in Weißrussland, sondern in Russland aufhalte. Er soll auf einem Anwesen westlich von Moskau unter Aufsicht des russischen Militärgeheimdienstes GRU untergebracht sein. Zuvor habe Marsalek erhebliche Summen in Form von Bitcoins aus Dubai nach Russland geschafft.
  • Wegen des politischen Konflikts zwischen der russischen Führung und Weißrusslands Staatschef Alexander Lukaschenko sei es dem GRU zu riskant gewesen, Marsalek im Nachbarland zu belassen. Deshalb sei er weiter nach Russland geschafft worden.

Der Kreml behauptet derweil, nichts von alledem zu wissen. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte am Montag zur Recherche des „Handelsblatts“ laut derer Marsalek in Russland sein soll: „Nein, es ist nichts bekannt.“ Die Nachrichtenagentur Interfax meldete, Marsalek werde von den russischen Behörden nicht verfolgt.

Demnach gibt es weder ein Strafverfahren gegen den Manager in Russland noch eine Auslieferungsanfrage. Russland habe auch keine Erkenntnisse über seinen Aufenthaltsort.

Von deutscher oder österreichischer Seite gab es am Montag keinerlei offizielle Angaben zu Marsaleks Aufenthaltsort. In der Bundespressekonferenz erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amts lediglich, man habe die Medienberichte zur Kenntnis genommen und äußere sich nicht zu Spekulationen oder laufenden Ermittlungen. Am 29. Juli soll im Finanzausschuss eine Sondersitzung zum Fall Wirecard stattfinden. (mit dpa, AFP)

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