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Ein Arbeiter geht am Mittwoch (01.10.2003) durch einen Pfütze im Rohbau der Chipfabrik in Frankfurt (Oder).
© picture-alliance / dpa/dpaweb

Schrumpfende Mittelschicht: Boom auf dem Arbeitsmarkt geht an vielen vorbei

Obwohl es so wenig Arbeitslosigkeit wie schon lange nicht mehr gibt, ist der Anteil der mittleren Einkommen in Deutschland deutlich geschrumpft. Wirtschaftsforscher warnen.

Vom Gehalt sorgenfrei leben, den Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen, später genug Rente haben: So funktioniert idealerweise das Leben in der Mittelschicht. Bröckelt diese, haben nicht nur die nach unten Abgestiegenen Probleme. „Gesellschaften mit einer kleinen Mittelschicht und hoher Ungleichheit bleiben unter ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten“, sagt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Die Mittelschicht investiere traditionell stark in die Ausbildung ihrer Kinder. „Schrumpft sie, gibt es künftig weniger Potenzial für Innovationen.“

Und die deutsche Mittelschicht ist kleiner geworden - obwohl die Arbeitslosigkeit derzeit so niedrig ist wie schon lange nicht mehr: Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Der Anteil von Haushalten mit mittlerem Einkommen ging demnach zwischen 1993 und 2013 von 56 auf 48 Prozent zurück.

Schwierig, von der Arbeit zu leben

Verglichen haben die Forscher die Markteinkommen der Bevölkerung. Das sind die Bruttoeinkünfte aus Erwerbstätigkeit und Geldanlagen - vor der staatlichen Umverteilung durch höhere Steuern für Besserverdienende und Sozialtransfers für Ärmere. Nach der IAQ-Definition von Mittelschicht hat eine vierköpfige Familie zwischen 2.000 und 7.000 Euro brutto im Monat - das entspricht 60 bis 200 Prozent des Durchschnittseinkommens. Das erreichen heute weniger Menschen als vor 20 Jahren.

„Es ist für mehr Menschen schwierig, von ihrer Arbeit zu leben, weil sie nur noch Zugang zu Teilzeit- und Minijobs haben“, sagt Studienautor Thorsten Kalina. „Das betrifft auch Hochqualifizierte.“ Gerade ein Drittel der Unterschicht lebt ausschließlich von Erwerbsarbeit, zeigen seine Daten. In der unteren Mittelschicht tun das mit 56 Prozent nur etwas mehr als die Hälfte.

Boom geht an vielen vorbei

Kalina fürchtet, dass sich das Schrumpfen der Mitte fortsetzt. „Wenn das in Boomzeiten schon so ist, wandert in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten ein weiterer Teil der Mittelschicht nach unten.“ Zumal auch das Rentenniveau weiter sinke. „Der Sozialstaat federt schon jetzt die Mitte ab, in Krisenzeiten kann ihn das überfordern.“

Tatsächlich zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Der Boom geht an vielen vorbei. Immerhin 15 Prozent der Deutschen gelten als arm oder armutsgefährdet. Für Geringqualifizierte ist das Armutsrisiko im Vergleich zu 2005 um sieben Prozent auf 30,8 Prozent gestiegen.
Der Einkommensabstand steigt, die Mitte schrumpft: Das bestätigen auch die Zahlen des DIW, das Nettoeinkommen betrachtet und Mittelschicht etwas anders definiert - als Einkommen zwischen 70 und 150 Prozent des Mittels: Zwischen 1997 bis 2013 schrumpfte so der Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung von 64 auf 58 Prozent. Begonnen habe der Trend zur Jahrtausendwende, als viele arbeitslos wurden, sagt DIW-Forscher Markus Grabka. Aufwärts ging es dann nicht mehr für die Mitte.

Mindestlohn ändert kaum etwas

„Der derzeitige Boom hat nichts mit den Ursachen der wachsenden Ungleichheit in Deutschland zu tun.“ Das Land habe „die Reformschraube am Arbeitsmarkt überdreht“, sagt der Ökonom. „Wir brauchen in Zeiten von Rekordbeschäftigung keine sieben Millionen geringfügig Beschäftigte, die aus den Sozialversicherungen ausgeschlossen sind und kaum Verhandlungsmöglichkeiten haben.“ Prekäre Beschäftigung betreffe zunehmend auch die Mittelschicht. Daran ändere auch der Mindestlohn kaum etwas, „solange die anderen Löhne sich nicht ebenfalls erhöhen“.
Die Unternehmen setzen weiter stark auf Teilzeit und Befristung. Denn: Die Arbeitszeiten der unteren Einkommensgruppen sinken, zeigt die IAQ-Studie. „Auch deshalb schrumpft die Mitte“, sagt Forscher Kalina. Mit beträchtlichen Folgen, sagen beide: Neben niedrigeren Steuereinkünften müsse der Staat mit mehr Sozialtransfers rechnen, allein weil in der unteren Mitte die Rente nicht reichen werde. (epd)

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