Die Callcenter-Branche: Auch am Sonntag erreichbar
Viel Stress, wenig Geld – das Image der Callcenter-Branche ist mies. Kirchen und Gewerkschaften fordern deshalb einen Tag Funkstille.
Den ganzen Tag sind die Augen auf den Bildschirm gerichtet, das Headset klemmt permanent am Ohr. Ein Kunde ruft an, klingt schlecht gelaunt und genervt. Trotzdem heißt es: Freundlich bleiben! Links spricht ein Mitarbeiter, rechts, ständig klingelt das Telefon. Studien sagen, dass es kaum einen anderen Arbeitsplatz gibt, wo so viele Mitarbeiter krank und depressiv sind wie hier: im Callcenter.
„Das schlechte Image der Branche ist nicht verwunderlich“, sagt der Gewerkschaftler Ulrich Beiderwieden. Er steht vergangene Woche im Kongresshotel Estrel Berlin auf der Messe „Call Center World“ und betreut den Verdi-Stand. Neben ihm liegt ein Packen Handzettel, auf dem die Ergebnisse des aktuellen DGB-Indexes „Gute Arbeit“ stehen: 80 Prozent der Callcenter-Befragten erleben tägliche Arbeitshetze, 65 Prozent sind mit zu vielen Projekten beschäftigt. 63 Prozent begründen die Zustände mit zu knapper Personalbemessung, 61 Prozent mit schlechter Planung. Der Depressionsatlas der Techniker Krankenkasse zählt in dem Arbeitsfeld die allermeisten Krankheitstage wegen psychischer Belastung. Noch vor der Altenpflege.
Allein in der Region arbeiten 25000 Menschen im Callcenter
Es ist ein Lagebericht, der Berlin stark betrifft: Von den rund 535 000 Mitarbeitern arbeiten 25 000 hier und in Brandenburg. Nach Angaben der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) existieren 240 Callcenter in der Region. Der Markt wächst – und Berlin ist laut der IHK „Deutschlands Telefonzentrale“.
Seit anderthalb Jahren geht allerdings ein Raunen durch die Branche. Im November 2014 hatte das Bundesverwaltungsgericht die Sonntagsarbeit von Callcentern, Videotheken und Bibliotheken in Hessen verboten. Geklagt hatten Verdi und zwei evangelische Gemeindeverbände. In ihrem Urteil meinten die Richter: Service sei kein besonders hervortretendes Bedürfnis der Bevölkerung, die Arbeit im Callcenter sei nicht nötig. Die Unternehmen schrien auf, fürchteten einen Präzedenzfall. Die Entscheidung könnte die ganze Branche durcheinanderwirbeln! Arbeitsplätze würden verloren gehen, Aufträge ins Ausland abwandern. Seitdem streiten der Call Center Verband (CCV) und die Gewerkschaft um die Schicht am Sonntag.
Darf das Callcenter auch am Sonntag auf haben?
Aus „Gründen des Gemeinwohls“ und zur „Sicherung der Beschäftigung“ setzte sich die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) im vergangenen November mit dem Thema auseinander und bat die Bundesregierung, eine deutschlandweite Erlaubnis für den Service am Wochenende zu prüfen. „Diese Prüfung dauert aber im Moment noch an“, sagte ein Pressesprecher von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Wie lange sie dauern wird, konnte er nicht beantworten. In Deutschland steht der Sonntag unter einem besonderen Schutz. Die Läden sind geschlossen, der Mensch soll ruhen. Für Krankenschwestern, Köche oder Lokführer ist es aber wie für Callcenter-Mitarbeiter ein gewöhnlicher Arbeitstag. Sämtliche Ausnahmen fasst der Paragraf 10 Arbeitszeitgesetz in einem Katalog zusammen. Manchmal sind sie zusätzlich in Arbeits- oder Tarifverträgen geregelt.
Nur gibt es in der Callcenter-Branche keine Tarifverträge. Zum Ärger von Verdi. Für Lobbyorganisationen wie den Call Center Verband steht erst einmal im Fokus, die Branche aus dem Verbotskatalog streichen zu lassen. Der jährliche Umsatz liegt in dem Markt bei mehr als 21 Milliarden Euro. „Ein Viertel des Jahresumsatzes erwirtschaften Call- und Contactcenter aber an den Sonntagen“, sagt CCV-Vorstandsmitglied Dirk Egelseer. Sollte die Sonntagssperre in ganz Deutschland gelten, erwartet er enttäuschte Verbraucher. „Die Mitarbeiter helfen unter anderem, pünktlich ans Reiseziel zu kommen, Internetrouter einzurichten und neue Handyverträge zu aktivieren.“ Unter der Woche hätten die Menschen keine Zeit dafür. Sie haben sich daran gewöhnt, am Sonntag anzurufen. Und, so argumentiert Egelseer: Viele der 240 000 Beschäftigten, die hin und wieder an Sonn- und Feiertagen arbeiten, sähen sich um ihre Zuschläge gebracht. Ein Drittel erhält 25 Prozent mehr Lohn, jeder Fünfte mehr als 50 Prozent.
Mittlerweile zahlen die Anbieter wenigstens den Mindestlohn
„Von wollen kann wohl keine Rede sein“, meint Beiderwieden dazu. Die Angestellten seien vielmehr dazu gezwungen, weil der Grundlohn so niedrig sei. Seit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns würden viele Beschäftigte zumindest 8,50 Euro in der Stunde verdienen. Davor sei der Stundenlohn oft niedriger gewesen. Seitdem gebe es auch weniger Aufstocker und Angestellte mit einem Zweitjob. Trotzdem müsse der Mindestlohn 2017 kräftig erhöht werden. „Eine Branche, die wächst und sich als innovativ und dynamisch darstellt, muss mehr tun, um als guter Arbeitgeber zu bestehen“, meint Beiderwieden.
Zur Schicht am Sonntag sagt er: „Wir haben natürlich nichts gegen Kartensperr- oder Pannenhilfe-Hotlines am Wochenende.“ Die bereits existierenden Ausnahmeregelungen seien allerdings ausreichend und dürften nicht weiter ausgereizt werden. Schon jetzt würden zu 70 Prozent Frauen in den Callcentern arbeiten, die eine starke Doppelbelastung bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie spüren würden. Dass sich die Verbraucher an den Service am Wochenende gewöhnt hätten, könnte sein. Notwendig sei er aber nicht. Mittlerweile gebe es online andere Möglichkeiten.
Die Sonntagsruhe ist vom Grundgesetz geschützt
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Einzelhandel protestieren und Lockerungen beim verkaufsoffenen Sonntag fordern könnte. Das Bundesverfassungsgericht hatte es 2009 für verfassungswidrig erklärt, dass Berlin seine Geschäfte an allen vier Adventssonntagen öffnen wollte. Seit dem Urteil ist die Sonntagsruhe vom Grundgesetz geschützt.
Wegen der Arbeitsbedingungen gebe es in der Branche Fluktuationsraten im zweistelligen Bereich, sagt Beiderwieden, und tausende offene Stellen. Dem widersprach CCV-Präsident Manfred Stockmann auf der Fachmesse nicht. Er nannte aber den allgemeinen Fachkräftemangel und die neue Konkurrenz der Start-ups als Gründe. Nicht die Bezahlung und den hohen Lärmpegel im Büro.
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