„Die Zeuginnen“: Amazon verrät versehentlich, was in Margaret Atwoods neuem Roman steht
Der US-Onlinehändler verkaufte mehrere Hundert Exemplare vorab - und das trotz Sperrfrist. Der Buchhandel ist wütend.
Es ist derzeit das wohl bestgehütete Geheimnis in der Welt der Bücher: Noch weiß kaum einer, wie Margaret Atwoods Geschichte „Report der Magd“ weitergeht. Am kommenden Dienstag soll die Fortsetzung „Die Zeuginnen“ der kanadischen Starautorin in gleich mehreren Ländern erscheinen. Damit vorher nichts durchsickert, gelten bis dahin höchste Sicherheitsmaßnahmen. Die Verlage halten die Bücher unter Verschluss, viele Buchläden haben bis heute keine Exemplare erhalten. Händler und Kritiker mussten außerdem strengste Verschwiegenheitserklärungen unterschreiben. Alles, damit bloß nichts vorab an die Öffentlichkeit gelangt.
Während die Welt gespannt wartet, konnte es einer wohl nicht abwarten: Amazon. Der Onlinehändler verschickte laut Medienberichten in den USA bereits mehrere Hundert Exemplare vorab an seine Kunden – und zwar versehentlich. „Aufgrund eines technischen Fehlers hat eine kleine Zahl von Kunden bereits Margaret Atwoods Buch erhalten“, erklärte Amazon gegenüber dem Tagesspiegel. Der Konzern bedauere die Schwierigkeiten, die den Verlagen und anderen Händlern entstanden sind. Betroffen gewesen sei jedoch nur die US-Seite des Onlinehändlers.
In den sozialen Netzwerken machte die Panne dennoch schnell die Runde. Glückliche Amazon-Kunden veröffentlichten Fotos von sich und dem Buch. Manche teilten sogar erste Auszüge des Romans im Kurznachrichtendienst Twitter.
Dabei hätte es ein großes Spektakel werden sollen, wenn Atwood ihre langersehnte Neuerscheinung vorstellt. Der Roman ist der zweite Teil ihres Bestsellers „Report der Magd“ aus dem Jahr 1985, der zuletzt als Vorlage für eine Fernsehserie diente. Pünktlich um Mitternacht will die Starautorin ihren Roman in einer Londoner Buchhandlung lesen, ein Interview wird am Tag darauf in rund 1000 Kinos weltweit übertragen. Etliche Händler planen zudem Mitternachtspartys zum Verkaufsstart und erwarten großen Andrang in ihren Filialen.
Damit vorher niemand etwas durchsticht, sind die Schutzmaßnahmen ähnlich groß wie etwa bei den Harry-Potter-Büchern von Joanne K. Rowling oder den Bestsellern von Dan Brown. Selbst die Jurymitglieder des renommierten Booker-Preises, die Atwoods Roman am Mittwoch auf ihre Shortlist gesetzt haben, wurden angeblich gewarnt: Der Verlag würde die Preisrichter haftbar machen, sollten vorab Kopien ihrer speziell mit Wasserzeichen versehenen Exemplare an die Öffentlichkeit gelangen.
Buchhandel beschwert sich über Amazon
Nun war es kein Jurymitglied, sondern einer der größten Konzerne der Welt, der mit der Abmachung brach. Ob der Verlag auch juristisch gegen den US-Konzern vorgehen wird, ließ er zunächst offen. Verstoßen Händler gegen solche Embargos, könnten sie bei den nächsten großen Neuerscheinungen leer ausgehen. Teilweise müssen sie auch hohe Vertragsstrafen zahlen.
Der Buchhandel ist wütend. So spricht etwa die American Booksellers Association (ABA) von einer „tiefen Enttäuschung“ über Amazons „eklatante Verletzung“ von Vereinbarungen. Erst in den vergangenen Wochen haben sich Verbandsvertreter beim US-Justizministerium und der amerikanischen Wettbewerbsbehörde FTC über negative Auswirkungen von Amazons großer Marktmacht beschwert. „Die jüngste Aktion unterstreicht nur noch einmal, wie wichtig es ist, dass die zuständigen Bundesbehörden die destruktiven Geschäftspraktiken von Amazon gründlich untersuchen“, erklärte die ABA in einer Stellungnahme.
Amazon beherrscht ein Fünftel des Buchhandels
Dabei geht es längst nicht nur um Pannen des US-Konzerns. Einst selbst gestartet als Buchhändler, macht Amazon den stationären Verkäufern das Geschäft zunehmend streitig. Das bekommen auch die deutschen Händler zu spüren. „Amazon legt seit Jahren ein sehr aggressives Geschäftsgebaren an den Tag und missbraucht seine Marktmacht, um Verlage und Buchhandlungen aus dem Markt zu drängen“, sagt Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.
Laut einer Studie der Universität St. Gallen beherrscht Amazon mittlerweile rund ein Fünftel des Buchmarktes, der Anteil an den Verkäufen von E-Books ist noch deutlich höher. Für den Konzern heißt das: Er kann gegenüber den Verlagen bessere Konditionen aushandeln. In den vergangenen Jahren entwickelte sich Amazon auch immer mehr zum Schrecken für Verlagshäuser selbst. Bereits seit acht Jahren können Hobbyschriftsteller ihre Manuskripte über Amazon als E-Books verkaufen. Über seine Verlagsmarken vertreibt der Konzern zunehmend auch eigene Werke. Mittlerweile kann sogar der stationäre Buchhandel die von Amazon verlegten Bücher vom Großhändler beziehen.
Autoren beklagen verkaufte Fälschungen
Im Juni berichtete die „New York Times“ zudem über Amazons vermeintliche Probleme mit gefälschten Werken. Die amerikanische Berufsorganisation für Schriftsteller „Authors Guild“ warf dem Konzern vor, die Echtheit und Qualität von angebotenen Büchern kaum zu prüfen. Die Folge seien stark angestiegene Verkäufe von Fälschungen über Amazons Seite. Gegenüber der „New York Times“ bestreitet Amazon, ein Problem mit Buchkopien zu haben. Das Unternehmen werde die Beschwerden aber prüfen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Amazon wegen unerlaubter Verkäufe und Vorabveröffentlichungen auffällt. Im Herbst vergangenen Jahres vertauschte der Streaming-Dienst des Konzerns versehentlich zwei Folgen der Serie „Doctor Who“ des britischen Senders BBC. Vor allem Fans der Serie waren enttäuscht, erfuhren sie durch den Fehler doch schon den weiteren Verlauf der Handlung. Eine weitere Panne unterlief Amazon dann im Januar, als bereits eine Woche vor dem offiziellen Kinostart in Großbritannien eine japanische Zombiekomödie auf dem Portal abrufbar war. Die Produktionsfirma hatte das jedoch nie genehmigt, bei der Version von Amazon handelte es sich laut Medienberichten um eine illegale Raubkopie.
Veröffentlichungstermin bleibt bestehen
Am bisherigen Veröffentlichungstermin von Atwoods Roman will der Verlag trotz der Amazon-Panne festhalten. So will er sicherstellen, dass zumindest alle anderen das Buch am selben Tag bekommen, heißt es.