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Cramer findet, man solle den Regionalverkehr stärken.
© imago images/Westend61

Schnellzugnetz in Europa: „85 Prozent der Bahngäste sind auf Strecken unter 50 Kilometer unterwegs“

Michael Cramer, Verkehrsurgestein der Grünen, kritisiert, dass Deutschland beim Bahnausbau häufig blockiert – und dass die falschen Prioritäten gesetzt werden.

Im nahen Bundestagswahlkampf will Andreas Scheuer als Verkehrsminister für die CSU glänzen, der die Bahn voranbringt. Zum Beispiel mit dem Konzept TEE 2.0, das angelehnt an den ehemals erfolgreichen Trans-Europ-Express mehr internationale Schnell- und Nachtzüge propagiert. Auf Highspeed-Pisten soll der Kontinent zusammenwachsen.  

Michael Cramer sieht solche PR-Feuerwerke mit Argwohn. Der Verkehrsexperte der Grünen, der sich 30 Jahre lang im EU-Parlament und im Berliner Abgeordnetenhaus für mehr nachhaltige Mobilität eingesetzt hat, erlebte in Sachen Bahn schon viele leere Versprechen, gebrochene Zusagen, vermurkste Konzepte und teure Fehlschläge. „Trotz der Milliardenausgaben der letzten Jahrzehnte“, bilanziert er im Gespräch mit dem Tagesspiegel, „ist das Schienennetz in der EU noch immer ein Flickenteppich mit vielen Löchern exakt an den Grenzen.“ Das liege nicht an Geldmangel, sondern an falschen Prioritäten.

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Seit zwei Jahren ist der heute 71-jährige ehemalige Vorsitzende des Verkehrsausschusses im EU-Parlament im Ruhestand. Einst kämpfte er erfolgreich gegen den Transrapid, weil die Magnetschwebebahn auf Betonstelzen seiner Meinung nach nur wenig kürzere Reisezeiten, aber enorme Kosten gebracht hätte. Später rechnete er vor, dass doppelstöckige Fernzüge auf ausgebauten Bestandsstrecken mehr Kapazität und günstigere Fahrpreise brächten – also sinnvoller wären als teure ICE-Flotten auf noch teureren Betontrassen.

Auch in seinen 15 Jahren im EU-Parlament bürstete der frühere Berliner Gymnasiallehrer gegen den Strich. Sein Credo: Mit den begrenzten Mitteln für besseren Schienenverkehr sollten erstmal Engpässe in der Fläche beseitigt werden. Und da besonders Lücken, die durch Kriege und die Teilung Europas entstanden sind, auch seit dem Fall des Eisernen Vorhangs fortbestehen und die Bahn vielfach ausbremsen. Brüssel allein kann das nicht ändern.

Neue Rennstrecken sind die falsche Priorität

„Denn ohne Zustimmung der Mitgliedsstaaten kann die EU leider kein Verkehrsprojekt durchsetzen“, bedauert Cramer. Vor allem Deutschland als einflussreicher Mitgliedsstaat habe in Brüssel erreicht, dass liberalisierte Bahnmärkte und der Ausbau der Transeuropäischen Netze (TEN) mit neuen Rennstrecken Priorität bekommen. Der falsche Ansatz, findet der Grüne: „Denn 85 Prozent der Bahnfahrgäste in der EU sind auf Strecken unter 50 Kilometer unterwegs.“

Es fehle der politische Wille, endlich umzusteuern und mit Vorrang die Netze in der Fläche zu modernisieren und Lücken zu schließen, kritisiert Cramer. Das liege nicht zuletzt an der starken Lobby für milliardenteure Highspeed-Pisten, Tunnel und Brücken, die das meiste Fördergeld verschlingen, erst nach Jahrzehnten fertig werden und deren Nutzen oft genug zweifelhaft sei. „Von solchen Großprojekten profitieren zu 90 Prozent vor allem Banken und Baukonzerne“, kritisiert der Grüne.

Aktuelles Beispiel seien die Pläne für Berlin-Prag-Wien, wo sich laut Scheuer die Fahrzeit von acht auf vier Stunden verkürzen soll. Dazu sollen bis 2035 neue Tempo-300-Abschnitte und ein Megatunnel durchs Erzgebirge realisiert werden. Dafür könnten wieder einmal Milliarden an EU- und Steuergeldern fließen. Cramer ist nicht gegen den Ausbau. Doch erst einmal, sagt er, sollten bereits vor Jahrzehnten beschlossene Vorhaben fertiggestellt werden: „Vorher darf es gerade in Deutschland keine neuen Projekte geben.“

200 Kilometer neue Bundesstraßen und Autobahnen, sechs Kilometer Schiene

Die Bundesregierung interessiere die umweltfreundliche Schiene überhaupt nicht, bilanziert der Grüne. Das zeigten schon die nackten Zahlen: „Während die Schweiz pro Einwohner jährlich knapp 400 Euro in die Schiene investiert, sind es in Deutschland lediglich 64 Euro. Und allein 2019 wurden 200 Kilometer neue Bundesstraßen und Autobahnen gebaut, aber gerade mal sechs Kilometer Schiene.“

Michael Cramer (Die Grünen), seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlamentes (EP) und nach eigenen Angaben seit 1979 ohne Auto mobil.
Michael Cramer (Die Grünen), seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlamentes (EP) und nach eigenen Angaben seit 1979 ohne Auto mobil.
© Thilo Rückeis

Im EU-Parlament bekam Cramer den Unmut in Nachbarländern über viele Versäumnisse der hiesigen Verkehrspolitik zu spüren. „Die Bundesregierung hat ihre Partner immer wieder schwer enttäuscht“, kritisiert er. Zum Beispiel Tschechien. 1995 wurde beschlossen, die Strecke Nürnberg-Prag zu elektrifizieren, was die Tschechen bis 2012 mit EU-Hilfe auch taten. Auf deutscher Seite dagegen wurde die Bahn bis zur Grenze 2009 stillgelegt und bis heute durch Busse ersetzt.

Auch Polen machte schlechte Erfahrungen. „Als Breslau 2016 Kultur-Hauptstadt Europas wurde, stellte die Deutsche Bahn ein halbes Jahr davor die Verbindung dorthin ein, weil sie nicht profitabel war – eine europaweite Blamage“, erinnert sich Cramer. Der „Kulturzug“ am Wochenende wurde erst mit Förderung von Berlin und Brandenburg gerettet und später sogar ausgezeichnet.

Ausbau in Polen, nicht aber in Deutschland

Solche krassen Beispiele zeigen für Cramer die Defizite in der deutschen Verkehrspolitik und die Benachteiligung der Schiene: „Von 23 internationalen Flughäfen in Deutschland sind 17 defizitär und werden staatlich subventioniert. Kein einziger wurde deswegen geschlossen – aber Fernzüge müssen Gewinn machen, sonst werden sie von der bundeseigenen DB AG stillgelegt.“

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Polen modernisierte zudem mit EU-Geld wichtige Bahnstrecken zur Grenze, so von Breslau, Kattowitz und Krakau. Auf deutscher Seite dagegen können Zuge auch mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall nur bis Cottbus elektrisch fahren, dann geht es Richtung Spremberg bis zur Grenze nur mit klimaschädlichen Dieselloks weiter, weil auf 50 Kilometer immer noch Oberleitungen fehlen.

„Die DB und die Bundesregierung hatten 30 Jahre lang daran kein Interesse, obwohl dieser Lückenschluss für den Korridor Hamburg-Krakau nur 100 Millionen Euro kosten und 2,5 Stunden Fahrzeit einsparen würde“, sagt Cramer. Erst in den nächsten Jahren soll mit Kohlepakt-Mitteln für die Lausitz die Elektrifizierung endlich nachgeholt werden.

Scheuer will zerstörte Rheinbrücke nicht wieder aufbauen

Ein krasses Versäumnis ist für den Experten auch der bis heute fehlende Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Rheinbrücke zwischen Breisach und Vogelsheim für die Verbindung Freiburg-Colmar im Südwesten: „Die deutsche und französische Regierung haben zwar in einer gemeinsamen Kabinettsitzung den Lückenschluss beschlossen, doch Scheuer lehnt das ab, weshalb das Projekt nicht im vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans auftaucht.“

In Österreich setzt die Bahn auf Nachtzüge - anders als in Deutschland.
In Österreich setzt die Bahn auf Nachtzüge - anders als in Deutschland.
© Georg Hochmuth/APA/dpa

Für den Güterverkehr hat die deutsche Nachlässigkeit besonders schwerwiegende Folgen. Die Schweiz hat für viele Milliarden Franken den Gotthardt-Basistunnel gebaut, damit möglichst viel Fracht im Alpentransit zwischen Nordsee und Mittelmeer auf die Bahn verlagert wird. Die Niederländer errichteten mit der Betuwe-Linie sogar eine eigene Frachtzugstrecke vom wichtigsten Containerhafen Rotterdam zur deutschen Grenze, ebenso baut Italien aus.

Dennoch bleibt Europas wichtigster Frachtkorridor Rotterdam-Genua entlang des Rheins noch Jahrzehnte ein Nadelöhr, kritisiert Cramer, weil Deutschland als einziger Partner den internationalen Verträgen von 1996 weit hinterherhinke. Der viergleisige Ausbau Karlsruhe-Basel wird wohl erst nach 2040 vollständig fertig werden, zumal das Tunneldesaster der DB bei Rastatt das Projekt noch weiter verzögert.

„Beim Brenner-Basistunnel könnte sich die deutsche Blamage wiederholen“, ahnt Cramer. Bis 2032 wollen Österreich und Italien den Durchstich fertigstellen, der die Alpentäler von Lkw-Kolonnen entlasten soll. Für den nötigen Ausbau der Bahnanbindung auf deutscher Seite im Inntal indes gibt es bis heute nicht mal eine gesicherte Planung. „Minister Scheuer sagte einer EU-Delegation, dass wegen des fehlenden Planfeststellungsverfahrens auf bayerischer Seite diese Strecke frühestens 2043 möglich wäre“, so der Grüne.

Umso mehr ärgert Cramer der PR-Rummel, den der Minister und die DB-Spitze um Richard Lutz und Ronald Pofalla rund um das wachsweiche Konzept TEE 2.0 veranstalten: „Nun werden plötzlich neue Nachtzüge propagiert, obwohl die DB selbst 2017 trotz Protesten und mit Duldung der Regierung sämtliche Nachtlinien eingestellt hat und auch dabei bleiben will.“

ÖBB macht gute Gewinne mit Nachtzügen

Viele Jahre habe der Staatskonzern mit dem Nachtverkehr Geld verdient, aber nichts für neue Züge zurückgelegt, dann einfach aufgegeben und damit ein Zukunftsgeschäft versäumt. Österreichs ÖBB, die einige DB-Linien übernahm und nun führend in Europa ist, fahre inzwischen ein Sechstel ihres Gewinns im Fernverkehr mit den Nachtzügen ein und freue sich über die deutschen Versäumnisse.            

Noch ein Beispiel hat Cramer parat: „Die DB wollte auch die Strecke Kaarst-Mettmann 1992 stilllegen, weil nur 500 Personen pro Tag unterwegs waren.“ Bürgermeister und Landräte seien dagegen Sturm gelaufen, organisierten die Übernahme der Strecke, verlegten Bahnhöfe von der grünen Wiese in die Nähe der Wohnungen und stimmten Fahrpläne von Bus und Bahn ab. „Heute benutzen diese Verbindung tagtäglich 20.000 Fahrgäste“, berichtet der Grüne.  

In Brüssel schritt er mit Parteifreunden in seiner Parlamentszeit selbst zur Tat. Die Grünen untersuchten 250 Verbindungen in Europa meist abseits der Hauptachsen und präsentierten dann 15 überfällige Lückenschlüsse an den Grenzen, mit denen die Bahn schnell attraktiver würde. Darunter einige früher leistungsfähige Strecken von Deutschland nach Polen, Tschechien und Holland. Mit Erfolg: Seit einigen Jahren fördert die EU erstmals zumindest einige kleinere grenzüberschreitende Projekte.      

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