Hohe Schienenmaut, keine Schlafwagen: Wie Deutschland die Nachtzüge ausbremst
Die ÖBB baut ihr Nightjet-Angebot aus – mithilfe der österreichischen Regierung. Andere Länder kopieren das Modell. Deutschland wird dagegen zum Bremser.
Kurz nach 10 Uhr fällt im Siemens-Werk Wien der Vorhang. Bei einer Online-Pressekonferenz wird am Dienstag der neue Nightjet-Schlafwagen von Österreichs Staatsbahn ÖBB präsentiert. Tiefblau lackiert, mit schwarzen Fensterrahmen und markanter roter Seitenlinie.
Innen gibt es künftig mehr Privatsphäre und Komfort, darunter Toiletten und Duschen in den Kabinen und in den Liegewagen verschließbare Schlafkapseln mit Klimaanlage, Mini-Suiten genannt. Eine „eigene kleine Wohlfühloase“ verspricht ÖBB-Chef Andreas Matthä den Fahrgästen.
Noch ist es nicht soweit. Die neuen Nightjets werden Ende nächsten Jahres starten, mit kostenlosem WLAN, Radmitnahme, mehr Laufruhe und barrierefreiem Einstieg. Auch deutsche Bahnfahrer:innen können sich darauf freuen. Denn die verbesserten Schlafwagen sollen von Wien über München nach Venedig zum Einsatz kommen.
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Ein attraktives Nachzugnetz bietet die ÖBB schon jetzt. Der Marktführer in Europa will seine bisher 19 Linien in den nächsten Jahren auf 26 Verbindungen ausbauen. Schon Ende 2021 soll es über Nacht dann auch von Zürich nach Köln und Amsterdam und von Wien über München nach Paris gehen.
Die Deutsche Bahn kauft keine Schlafwagen
Dafür investiert Österreichs Staatsbahn viel Geld. Mitte 2018 wurde mit Siemens ein Rahmenvertrag über 700 Reisezugwagen für den Tag- und Nachtverkehr geschlossen. Gesamtvolumen: 1,5 Milliarden Euro. Die ersten 13 neuen Nightjets mit je sieben Schlaf-, Liege- und Sitzwagen werden derzeit in Wien gebaut, dort hat Siemens Mobility die neue Modellreihe auch auf Basis seiner bewährten Vario-Plattform entwickelt.
Die Deutsche Bahn wird dagegen keine neuen Schlafwagen beschaffen, wie vergangene Woche eine Anfrage des FDP-Politikers Christian Jung zeigte. Dabei hatte der DB-Vorstandsvorsitzende Richard Lutz noch im Dezember zusammen mit Andreas Matthä und den Chefs der Schweizer SBB und der französischen SNCF eine Nachtzug-Allianz bekanntgegeben.
Für Verkehrsminister Andreas Scheuer war es der erste Schritt zur Rückkehr des Trans-Europ-Express. In Europa will der CSU-Politiker wieder mehr langlaufende Bahnverbindungen am Tag und in der Nacht schaffen – als Alternative zu klimaschädlichen Flügen.
Doch die Bahn unterstützt auf den europäischen Nachtverbindungen offenbar weiterhin nur den Nightjet der ÖBB – zur Empörung von Umweltaktivisten. „Die medienwirksam angekündigte Rückkehr zum Nachtzug in Deutschland war wohl vor allem eine PR-Veranstaltung von Herrn Scheuer“, schrieb etwa Jens Hilgenberg, der Verkehrsexperte des BUND, auf Twitter.
Der grüne Verkehrspolitiker Cem Özdemir verspricht eine Kurskorrektur. „Dass die Deutsche Bahn das Geschäft mit den Schlafwagen komplett ihren Partnern überlässt, ist der falsche Ansatz“, sagte Özdemir am 17. Februar bei der Vorstellung einer Machbarkeitsstudie für einen Nachtzug von Frankfurt nach Barcelona. Nach der Bundestagswahl werde man das in Angriff nehmen.
Wirtschaftlich lohnen sich Nachtzüge kaum
Dabei zeigt die Studie, dass die Deutsche Bahn betriebswirtschaftlich gute Gründe hat, keine neuen Schlafwagen zu kaufen. So will die französische Initiative „Objectif Train de Nuit“ für ihren „Lunatrain“ von Frankfurt über Straßburg nach Barcelona Schlafwagen mit Güterwaggons kombinieren.
Ein gewagtes Konzept – allein schon, weil Personen- und Güterwagen in Europa immer noch unterschiedlich gekuppelt werden. Für einen klassischen Nachtzug ohne Fracht gebe es auf der Strecke nicht genug Fahrgäste, erklärte Erik Boisseau von „Objectif Train de Nuit“. 164.000 Reisende könnten in ihrem „Lunatrain“ laut Machbarkeitsstudie pro Jahr unterwegs sein. Profitabel wäre die Verbindung erst bei 300.000 Reisenden.
Das von vielen gewünschte Nachtzug-Comeback bleibt wirtschaftlich schwierig. Junge Europäer:innen denken bei Liegewagen zwar inzwischen an Klimaschutz und nicht mehr an schnarchende Mitreisende mit Fahrradtaschen. Die personalintensiven Schlafwagen mit Hotelbetrieb sind für die Betreiber aber tendenziell weiter ein Minusgeschäft. Ohne staatliche Anschubhilfe werde es deshalb keine Rückkehr eines dichten europäischen Nachtlinien-Netzes geben, meint Bernhard Knierim vom Netzwerk „Bahn für alle“.
Andere Länder helfen ihren Bahnen
Tatsächlich floriert der Nightjet auch wegen der Unterstützung der österreichischen Regierung, die der ÖBB auf inländischen Nachtzug-Verbindungen eine Grundvergütung gewährt. Mit dem Erhalt und Ausbau des Nightjet-Netzes habe man den nötigen politischen Weitblick bewiesen, sagt Österreichs Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Die Grünen) stolz bei der Präsentation der neuen Züge.
„Ich bin überzeugt, dass wir mehr Nachtzüge in Europa als klimafreundliche Alternative zu Kurzflügen brauchen.“ Rund 500 Millionen Euro will das Land in die weitere Zukunft der Nachtzüge stecken. Die Bestellung der nächsten 20 Nightjets bei Siemens soll noch in diesem Jahr folgen.
Andere Länder kopieren das Modell. Auf den Schweizer „Nightjet“-Strecken trägt die Staatsbahn SBB auf Geheiß von Bern das unternehmerische Risiko mit. Weshalb es von Zürich nun bald nach Amsterdam, Rom und Barcelona geht. Von Amsterdam fährt zudem wohl schon ab dem Frühjahr ein Nachtzug nach Wien. Den Haag gewährt für beide Strecken eine großzügige Starthilfe.
Auch Schweden investiert 40 Millionen Euro in Nachtzüge von Malmö nach Brüssel und von Stockholm nach Berlin. Den Zug nach Berlin wird die Privatbahn Snälltåget betreiben. Und Frankreich hat der SNCF als Corona-Hilfe 100 Millionen Euro für die Überholung ihrer Schlaf- und Liegewagen überwiesen. 2022 wird es deshalb zwei neue Linien von Paris nach Nizza und in die Pyrenäen geben. Bis 2030 möchte Verkehrsstaatssekretär Jean-Baptiste Djebbari insgesamt zehn neue Verbindungen schaffen.
Nur Deutschland will trotz Flugscham-Debatte auf Subventionen verzichten. In der Konsequenz spart sich die Deutsche Bahn die Hotelwagen und fährt nachts weiter mit ihren regulären ICE- und Intercity-Zügen. Berlin bekommt in der Folge in den nächsten Jahren nur eine neue Nightjet-Verbindung nach Brüssel und Paris, für die sich viele Abgeordnete des EU-Parlaments eingesetzt hatten. Die Bundestagsfraktion der Grünen fordert nun jedoch einen Richtungswechsel. Laut ihrem neuen Bahnkonzept soll der Bund als Aufgabenträger Nachtzüge fördern.
Mit hohen Trassenpreisen wird Deutschland zum Bremser
Für die langlaufenden und margenschwachen Nachtzüge ist auch die hohe Schienenmaut in Deutschland ein echtes Hindernis. Anders als in den meisten Nachbarländern müssen die Eisenbahnen hierzulande nicht nur den Einsatz der Stellwerker:innen bezahlen, sondern auch die Kosten für den Netzerhalt.
Pkw zahlen im Land der Autobahn dagegen weiterhin keine Maut. In europaweiten Vergleich investiert Deutschland pro Einwohner vergleichsweise wenig ins Schienennetz – auch das erklärt die hohen Trassenpreise mit Vollkostenansatz.
Aufgrund seiner zentralen Lage erschwere Deutschland damit auch internationale Zugfahrten, die Nachbarländer schaffen wollen, betont Lena Donat von der Umweltorganisation Germanwatch. Eine Senkung der Trassenpreise wäre ein entscheidender Hebel, meint sie. „Bei vielen Eisenbahnen machen sie 30 Prozent der Operationskosten aus.“
Donat glaubt, dass „konservative Politiker“ das Potential von Nachtzügen noch immer unterschätzen. „Eine Mehrheit der Bürger wünscht sich in Umfragen mehr durchgehende internationale Zugverbindungen – am Tag und in der Nacht“, sagt sie. Doch selbst auf Strecken, auf denen der Zug in unter sechs Stunden unterwegs ist, dominiert häufig noch das Flugzeug. „Die Züge fahren nicht oft genug“, meint Donat.
Nachtzüge, mit denen Reisende große Strecken praktisch ohne Zeitverlust überwinden und sich eine Übernachtung sparen, gelten als besonders attraktive Alternative. Bisher scheitern mehr Nachtverbindungen auch an fehlenden Waggons.
Die großen Staatsbahnen haben fast alle ihre Schlafwagen in den vergangenen Jahren verschrottet. Doch es tut sich was. „Es gibt Rieseninteresse aus ganz Europa“, sagt Siemens-Mobility-Chef Michael Peter. Mit Bestellungen aus Deutschland muss er aber vorerst nicht rechnen.