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Vielflieger. Hinter Severin Freund gibt es zahlreiche deutsche Talente.
© dpa

Skisprung-Sportdirektor Hüttel vor der 65. Vierschanzentournee: „Wir wollen Piloten, keine Co-Piloten“

Der deutsche Skisprung-Sportdirektor Horst Hüttel spricht im Interview über die Vierschanzentournee, das Nachwuchssystem und klare Spielregeln.

Von Johannes Nedo

Herr Hüttel, die Skispringer sprechen ja oft von ihrem Gefühl. Wie ist denn das Gefühl des Sportdirektors kurz vor Beginn der Vierschanzentournee am Freitag?

Ich habe ein gutes Gefühl. Wir gehen natürlich nicht als großer Favorit in die Tournee, das war in den vergangenen Jahren mit Severin Freund schon etwas anders. Da waren aber auch die Erwartungen hoch. Dieses Mal wird nicht erwartet, dass wir die Tournee unbedingt gewinnen müssen. Auf der anderen Seite haben wir unser eigenes Anspruchsdenken: Wir wollen absolut um die Podestplätze mitkämpfen.

Wie sind die ersten Weltcup-Wochen aus Ihrer Sicht verlaufen?

Ich kann ein positives Zwischenfazit ziehen. Wir sind mannschaftlich gut gestartet und liegen in der Nationenwertung als Zweiter knapp hinter Österreich. Wir haben mit dem Sieg von Severin zu Beginn und dann dem dritten Platz von Markus Eisenbichler – er ist für uns überhaupt die Überraschung bisher - positive Ausrufezeichen setzen können. Sicherlich haben wir noch etwas daran zu knabbern, dass Severin noch nicht in der Form der vergangenen Jahre ist. Er war in den letzten Jahren der herausragende Athlet. Aber nach seiner Operation im April ist er noch nicht so stabil, wie wir ihn kennen. Doch ein routinierter Athlet wie Severin kann schnell wieder in Form kommen. Wir trauen aber auch den anderen Athleten zu, dass sie für positive Schlagzeilen sorgen können.

Wie gehen Sie denn im Team mit den mittlerweile gestiegenen Ansprüchen um?
Wir nehmen das einerseits als etwas Schönes wahr, wir bekommen ja mehr Aufmerksamkeit – und das wollen wir ja auch. Andererseits dürfen wir aus den Erwartungen keine Geißel machen und denken: Wir müssen dieses Mal unbedingt wieder so weit vorne sein. An einer übertriebenen Erwartungshaltung wollen wir nicht zerbrechen. Wir wollen mit offenem Visier in die Tournee gehen, aber wenn am Ende die Plätze sechs und neun herauskommen und wir gut Ski springen, werden wir nicht zu Tode betrübt sein.

Worauf wird es vor allem ankommen bei dieser 65. Vierschanzentournee?
Das Entscheidende wird sein, das besondere Flair der Tournee aufzunehmen und in besondere Leistungen umzumünzen. Es ist schon etwas sehr Spezielles, mit diesen Springen im eigenen Land zu starten. Mehr als 20 000 Zuschauer an der Schanze haben wir ja nicht einmal bei der Weltmeisterschaft. Wir müssen in einer positiven Balance bleiben, wollen uns von den Emotionen anstecken lassen und zugleich sachlich nüchtern unseren Job gut machen. Letzten Endes wird derjenige gewinnen, der am besten springt.

Horst Hüttel, 48, ist seit 2008 beim Deutschen Ski-Verband als Sportdirektor für Skispringen und Kombination zuständig.
Horst Hüttel, 48, ist seit 2008 beim Deutschen Ski-Verband als Sportdirektor für Skispringen und Kombination zuständig.
© Imago

Ist dieses Mal der erst 17 Jahre alte Domen Prevc aus Slowenien der Skispringer, über den der Sieg geht? Er ist der dominierende Athlet des bisherigen Winters.
Für mich ist Domen Prevc der Topfavorit, auch wenn es selten komplette Alleinunterhalter bei der Tournee gibt. Aber so, wie ich ihn bisher gesehen habe, lässt er sich auch von außen wenig beeindrucken. Er macht einfach sehr viel aus einem gewissen Instinkt heraus. Wenn ich wetten müsste, würde ich auf ihn setzen.

Die Prevc-Familie ist ja überhaupt ein Faszinosum. In Engelberg sind zuletzt alle drei Brüder – Peter, Domen und Cene – in einem Weltcup-Springen angetreten. So etwas gab es noch nie.
Das sind glückliche Umstände. Ich wüsste nicht, wie wir so etwas beim Deutschen Ski-Verband planen könnten.

Gibt es denn genügend gute junge Nachrücker für die deutschen Nationalmannschaftskader?
Generell schon, da bin ich zufrieden. Bei Junioren-Weltmeisterschaften haben wir in den vergangenen beiden Jahren einige Medaillen gewonnen. David Siegel ist 2016 Weltmeister geworden und davor Andreas Wellinger. Wir haben zuletzt intensiv daran gearbeitet, unser Nachwuchssystem zu optimieren. Wir arbeiten jetzt noch zielgerichteter und stecken auch mehr Energie in die Basisarbeit. Denn nur so kann man langfristig und nachhaltig erfolgreich sein. Wir sind zwar noch nicht ganz da, wo ich uns gerne sehen würde, und uns fehlen noch ein paar Bausteine, aber wir sind auf einem guten Weg.

Welche Bausteine fehlen noch?
Wir haben ein infrastrukturelles Problem bei unseren Nachwuchszentren. Uns fehlen dort die Beschneiungssysteme. Wenn ein Winter so mild wie der bisherige ist, können wir die Monate November und Dezember nicht effektiv genug für das Training nutzen. Da müssen wir noch nachjustieren.

Wenn Sie über Ihre Strategie bei den Skispringern reden, sprechen Sie oft von einem roten Faden. Was sind die wichtigen Elemente dieses roten Fadens?
Zuerst ist uns wichtig, dass der Athlet im Mittelpunkt unserer Philosophie steht. Wir haben einen ganzheitlichen Ansatz. Wir leben das von unserer U-16-Mannschaft bis zum Spitzenbereich. Wir wollen die Aktiven unterstützen, sich zu Persönlichkeiten zu entwickeln. In diesem Kontext arbeiten wir unter anderem mit dem renommierten Sportpsychologen Oskar Handow zusammen.

Worauf setzt Handow besonders?
Er will die Athleten dazu anleiten, von Anfang an das Heft des Handelns in die eigene Hand zu nehmen. Jeder Sportler soll von klein auf Pilot und nicht Co-Pilot sein. Für die Aktiven gilt es, Verantwortung für Schule und Sport zu übernehmen. Die jungen Athleten sollen einfach sehr früh zu Persönlichkeiten reifen und ihre Karriere aktiv gestalten.

Worauf legen Sie noch den Fokus?
Der andere große Bestandteil des roten Fadens ist die technische Ausbildung. Da geht es um die Frage: Wie trainieren wir im Schülerbereich, damit wir später bei den Profis ganz vorne sind? Eine Junioren-WM soll nicht der Höhepunkt, sondern der Start in eine erfolgreiche Karriere sein. Wir setzen auf einen methodischen Aufbau, und dafür braucht man eben auch Geduld.

"Werner Schuster ist ein Glücksfall für das Skispringen"

Sehen Sie Ihr System gut gerüstet, um nachhaltig zu sein?
Auf jeden Fall. Denn wir sind auch in den Nachwuchsserien erfolgreich. Zudem haben wir bei den Kindern im Alter von sechs bis zehn Jahren eine so große Breite wie noch nie zuvor. Das ist vor allem deshalb wichtig für uns, weil wir wissen: Kinder, die wir bis zehn nicht für das Skispringen gewonnen haben, lassen sich später nicht mehr dafür begeistern. Wir müssen also schon sehr früh die Weichen stellen und da haben wir vieles in den vergangenen Jahren auf einen guten Weg gebracht.

Was sind denn noch Stolpersteine auf diesem Weg?
Man muss auch eine gute Atmosphäre kreieren. Wenn man in den Nachwuchs und die Trainer viel Geld gesteckt und vieles richtig gemacht hat, kann es trotzdem sein, dass die Potenziale nicht zum Vorschein kommen. Die Atmosphäre im Gesamtteam muss man immer im Blick haben und pflegen. Natürlich ist jeder Skispringer auch ein Individualsportler, mit eigenen Ansprüchen. Aber wir sind auch ein Team. Da sind gruppendynamische Prozesse mit klaren Spielregeln enorm wichtig. Das muss man auch immer nachjustieren, denn es kommen immer mal wieder persönliche Befindlichkeiten mit auf den Tisch.

Welche sind das?
Die Topathleten sind ja starke Persönlichkeiten, mit einer gesunden Portion Egoismus. Das ist wichtig, um absolute Spitzenleistungen zu erzielen. Man muss diesen Egoismus aber in verträgliche Bahnen lenken. Und da ist die tagtägliche Arbeit gefragt. Einfach so eine Teambildungsmaßnahme zu organisieren und drei Tage wandern zu gehen, hilft nichts, wenn an den restlichen Tagen der Saison nichts in dieser Richtung passiert.

Zusätzlich zu dem psychologischen Bereich haben Sie auch die Materialentwicklung vorangetrieben.

Ich habe nach den Winterspielen 2010 in Vancouver gemerkt, dass andere Nationen uns im wissenschaftlichen Bereich voraus sind und dort mehr investieren. Aber es ist uns gelungen, insbesondere mit dem Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten in Berlin, eine gute Kooperation einzugehen. Das haben wir forciert, weil wir versuchen wollen, uns einen Wettbewerbsvorteil zu erarbeiten. Aber andere Nationen haben das eben auch nochmal intensiviert. Man kann mittlerweile von einer Materialschlacht sprechen. Es ist noch nicht so diffizil wie in der Formel 1, aber schon nah dran. Deswegen haben wir unsere Bemühungen dort auch verstärkt – und so sind wir in unsere derzeit gute Gesamtposition gekommen.

Welchen Anteil hat Bundestrainer Werner Schuster am Aufschwung des deutschen Skispringens?
Ihn zeichnet aus, dass er eine extrem hohe sportliche Expertise besitzt. Ich glaube, es gibt niemanden auf der Welt, der mehr vom Skispringen versteht als Werner Schuster. Davon bin ich überzeugt. Außerdem ist er jeden Tag hoch motiviert. Für das Skispringen in Deutschland ist er ein Glücksfall. Sein Vertrag läuft noch bis 2019. Wir werden aber sicherlich nicht bis 2019 warten, um mit ihm in neue Gespräche zu gehen. Das werden wir bestimmt schon im nächsten Sommer tun.

Kann man bei all dem Aufwand gewichten, wovon es abhängt, ob es in Deutschland gerade ein Skisprung-Hoch gibt oder nicht?
Das ist sehr schwer. Wir streben einfach ein optimales Gesamtsystem an. Wir wollen kein hoffnungsvolles Talent verlieren. Darum müssen wir überall ansetzen. Man braucht eine gute Struktur, gute Inhalte und eine gute Balance von oben nach unten wie auch eine gute Durchlässigkeit zwischen den Kadern. Und letzten Endes liegt es an jedem Sportler, was er aus seinen Möglichkeiten macht.

Für all das braucht man auch genug Geld. Die Skispringer haben einen Etat von 1,5 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung. Können Sie damit gut arbeiten?
Das Budget ist gut, aber nicht perfekt. Wir wüssten schon, wo wir mehr Geld sofort effizient einsetzen könnten. Etwa bei zusätzlichen Lehrgängen im Nachwuchsbereich. Aber da sind uns auch Grenzen gesetzt.

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