Potas und die Spitzensportreform: Was, wenn der Olympia-Traum platzt?
Deutschland will mehr Medaillen und versucht es mit einer Sportreform. Doch die verunsichert Sportler und Verbände aus verschiedenen Gründen.
Nachmittag in Markkleeberg, es ist ein sonniger Tag im Kanupark, doch langsam ziehen Wolken auf. Der Nachwuchs dreht auf dem Kanal zwischen Toren im Wildwasser seine Runden. Gleich werden sie wohl vom Wasser müssen. Der Regen ist nicht das Problem, eher das Gewitter, das sich ankündigt. Am Streckenrand kämpft Franz Antons Stimme gegen das Tosen von Wasser und Walzen – und gegen den Ärger, der sich im Slalomweltmeister angestaut hat.
Seine Disziplin, der Canadier-Zweier, ist für 2020 aus dem olympischen Programm genommen. Das war schon länger klar, und damit auch, dass irgendwann keine Weltcups mehr ausgetragen würden. Am 26. März machte der Internationale Verband ICF nun die Mitteilung, dass es jetzt so weit sei – nach der Saisonvorbereitung, ohne Vorwarnung, wenige Wochen vor der Saison. Für die deutschen Kanuten, immerhin Europameister und Weltmeister, war das ein „Schlag ins Gesicht“, sagt Franz Anton. Einhergehend mit Existenzängsten, weil nun vereinbarte Förderer wegbrechen in einer ohnehin Mangel-Sportart, der schlichtweg die Fernsehpräsenz fehlt. Statt „Handschlag und Blumenstrauß“, sagt Anton, gibt es nun also gar nichts mehr. Ein Winter ohne Förderung ist praktisch gleichbedeutend mit dem Karriereende. Diesmal hat er noch Glück gehabt, er plant seit Jahren doppelt, startet auch im C1. „Diesmal“, sagt Franz Anton. „Wir wissen nicht, ob uns mit Potas noch mal dasselbe droht.“
Zu viel ist noch unklar
Potas, das ist die Abkürzung für Potenzialanalysesystem. Potas, das ist das Herz der Reform, die der Spitzensport und das Bundesinnenministerium (BMI) beschlossen haben. Grob gesagt, soll es den Erfolg deutscher Sportler bei Olympischen Spielen wahrscheinlicher machen. Dafür berechnet ein Computer die Potenziale der einzelnen Sportarten, nach denen das Geld dann, augenscheinlich objektiv, umverteilt wird. Manche werden mehr bekommen, andere weniger. Manche gar nichts mehr. So soll künftig gewährleistet sein, dass aus den 160 Millionen Euro Sportförderung jährlich das Medaillen-Maximum herauskommt. Potas nimmt in diesen Tagen seine Arbeit auf.
Aktuell ist Potas aber vor allem noch ein Ungetüm mit fünf Buchstaben: Keiner weiß, welche Gefahr dahinter lauert oder ob sich die Bedrohung als Papiertiger erweist, vielleicht sogar Gutes bringt. Alles scheint möglich und allzu viel ist noch unklar – etwa, wie drastisch die Umverteilung ausfallen wird und wie unvermittelt. Entsprechend groß ist die Verunsicherung bei den Verbänden. Und noch mehr bei den Athleten, die in den Prozess kaum eingebunden sind. „Prinzip stille Post“ nennt Fechter Max Hartung das Verfahren: Was der Erste dem Zweiten flüstert, kommt beim Letzten höchst selten so an. Das kann als Kinderspiel lustig sein, ist es aber nicht mehr, wenn es um die berufliche Existenz geht. Doch der Athletensprecher des DOSB verbindet mit Potas neben Sorge auch Hoffnungen - „dass mehr Geld bei Athleten und Trainern ankommt, die Bedingungen besser werden“, sagt Hartung. Der Sport hofft auf mehr Geld, wenn die Reform greift. Das BMI hat das so auch zugesagt.
Es geht um Strukturen, nicht um Menschen
Doch an der Basis geht die Angst um. Zu intransparent sei das alles, heißt es. Zu vage die Information, die nach außen dringen würden. Das Konzeptpapier sei voller Fremdwörter und komplett schwammig, klagt Kanute Franz Anton. Dass Stützpunkte zusammengelegt werden sollen, wird deutlich, auch Kader konzentriert. Wer hinschaut, der sieht, dass es vor allem um Strukturen geht und weniger um Menschen. „Der Athlet im Mittelpunkt darf nicht nur ein Marketingtool sein“, sagt Michael Ilgner. „Das schürt eine Erwartungshaltung, die nicht erfüllt werden kann, da es zunächst vornehmlich um Strukturen geht. Man muss das vielleicht deutlicher und offen kommunizieren“, sagt Ilgner. Nur dem Computer zu gehorchen, werde im sozialen Feld Spitzensport leidlich Erfolg haben.
Über Förderung, in Höhe von 300 bis 2000 Euro monatlich, entscheidet die Sporthilfe nicht nur nach Kaderzugehörigkeit. Sie schaut auch auf den Einzelfall. Das soll auch in Zukunft so sein. Aber: „Im Sport geht es immer um Auswahlprozesse – dass die einen sich durchsetzen und andere Karrieren beenden“, sagt Ilgner. Man müsse es nur, anders als im Fall der Kanuten mit dem Weltverband, fair und rechtzeitig kommunizieren.
Die Ergebnisse von Potas werden bei der Besetzung der Sportfördergruppen im Bund berücksichtigt. Daran wiederum hängt für das Gros der Berufssportler das Einkommen – und auch die Perspektive Studium oder Ausbildung. Einige Disziplinen, gar ganze Sportarten könnten bei der Umverteilung leer ausgehen. Auch solche, an die sich bislang aus Imagegründen keiner herangewagt hat. Der Allgemeine Hochschulsportverband hatte schon 2017 gewarnt, dass eine so konsequente Erfolgsorientierung duale Karriere und damit Absicherung gefährden könnte. Selbst wenn es im Papier anders steht: Wer will schon in der Bibliothek Zeit mit Folianten verbringen, wenn der Sport volle Aufmerksamkeit fordert oder stattdessen das Aus droht?
Pro oder contra Duale Karriere?
Im Kanuslalom studieren die Sportsoldaten derzeit neben Wehrdienst und Training hochkomplexe Fächer wie Steuerwesen, Raumfahrttechnik und Logistik. Der Leipziger Weltmeister Franz Anton hat seine Ausbildung bei der Landespolizei Sachsen gemacht, er hat eine Übernahmegarantie, sobald Schluss ist mit dem Sport. Wie das für im Bund Angestellte aussieht, wenn Kaderplätze gestrichen oder zwischen Disziplinen umverteilt werden, ist bisher unbeantwortet – auch ob ein Studienplatz garantiert bleibt, wenn er über die Quote für Spitzensportler besetzt wurde. Das 39 Seiten schlanke Konzeptpapier nennt die Förderung dualer Karrieren zwar als Ziel, trifft dazu aber konkret keine Aussagen. Die Athleten verunsichere das extrem, sagt Franz Anton. „Viele werden abwägen, ob es das noch wert ist, wenn uns die Sicherheit wegbricht.“
Gerade im Wildwasser entscheiden oft Winzigkeiten über Sieg oder Niederlage. Anton und seinem Partner Jan Benzien fehlten bei den Olympischen Spielen in Rio 2016 drei Zehntelsekunden auf Bronze. Beim Teamkollegen Hannes Aigner aus Augsburg im Kajak waren es sogar nur drei Hundertstel. „Und das soll dann über die Zukunft entscheiden, weil ein Computer es eben so entschieden hat“, sagt Franz Anton verständnislos. Zumal über den Algorithmus gar nichts bekannt ist. Aktuell füttern die Winterverbände ihn erstmals mit Zahlen. Die Sommersportarten folgen 2020. Bundesweit wuselt es in den Geschäftsstellen. Denn Potas ist aufwendig: Fragen beantworten, Belege finden, Dokumente heften. Für jede Sportart, Disziplin und Geschlecht. Jeweils 151 Fragen in 16 Kategorien.
Wenige finden die Reform positiv - wollen aber nicht bei sich kürzen
„Rumjammern hilft nicht. Wir haben es 2016 beschlossen und jetzt müssen wir da durch“, sagt Thomas Schwab, der Präsident des Bob- und Schlittenverbands Deutschland. Auch um ihn bindet Potas derzeit drei Kräfte. Trotzdem sieht er die Dinge positiv. Und das scheint nur natürlich: Schwab muss sich nicht sorgen. Seine Sportler haben geliefert in Pyeongchang. Elf Medaillen, darunter sechs goldene in allen Disziplinen.
Der Bob- und Rodelsport hierzulande profitiert noch von Mielkes Erbe, der einst in den 1980ern die anspruchsvollsten Bahnen der Welt in die Thüringer und sächsischen Wälder pflanzen ließ. Die Bahnen werden jährlich mit Millionen bezuschusst. Doch Stützpunkte streichen kommt für Schwab nicht infrage, mit vier Kunsteisbahnen sei man konzentriert genug, und die Qualität seiner Sportler liege ja eben im Training auf diesen vier Bahnen, die allein schon den halben Weltcup-Kalender ausmachen. Schwab findet den Ansatz von Potas gut und richtig. Perspektiven und Strukturen wurden bisher nicht belohnt, sagt er, das komme auch seinem Verband nun zugute. „Und es macht ja auch überhaupt keinen Sinn, wenn weniger erfolgreiche Verbände ihr Geld in die Spitze stecken. Man braucht doch da nicht hoffen, dass etwas herauskommt. Die müssen dann eben in den Nachwuchs investieren“, sagt Schwab.
Andere Wintersportverbände äußern sich öffentlich nicht zur Reform. Bis Mai müssen sie die Unterlagen beisammen haben. Curling und Eisschnelllauf-Verband bitten um Verständnis: Man müsse sich derzeit neu sortieren, wolle deshalb keine Fragen beantworten. Beide müssen mit Einbußen rechnen, Curling nach verpasster Olympia-Teilnahme und WM auf den letzten Rängen sogar mit einer kompletten Einstellung der Förderung.
Ist Mithalten überhaupt immer wünschenswert?
Dabei sind sich die Verbände an sich einig: Gegen neu verteilte Gelder ist nichts einzuwenden. Erst recht nicht, wenn es um mehr Geld geht. Reformen sind notwendig. Anders kann man nicht mithalten. Großbritannien und Co. haben solche Anstrengungen schon vor zehn Jahren begonnen.
Mancher stellt aber auch die Frage, ob „mithalten“ überhaupt wünschenswert ist. Etwa in Disziplinen, die von Dopingverdachten durchsetzt sind (Schwimmen, Skilanglauf) oder Drill bis zur Selbstaufgabe (Turnen, Eiskunstlauf) Grundvoraussetzung für Erfolg scheint. Ist Spitzensport nur etwas wert, wenn er Gold liefert? Freilich strebt der Spitzensport nach Erfolgen – vor allem die Athleten selbst. Doch Erfolg im Sport ist trotz Forschung ungewiss: Es kommt das Soziale hinzu. „Biografische Brüche, Motivation – das kann kein Computer der Welt berechnen“, mahnt der Sportphilosoph Gunter Gebauer.
Gebauer stellt den Wert von Medaillen für die Gesellschaft ohnehin infrage. Zur Repräsentation Deutschlands, geschweige denn Nachweis von Leistungsfähigkeit eines Systems in der Konkurrenz der Nationen, wie einem im Kalten Krieg vorgegaukelt wurde, taugten sie nicht, sagt er. „Das mag dem Nationalismus schmeicheln, ist in der Sache aber doch schmal für eine staatliche Förderung.“ Auch repräsentierten Medaillen in Bob und Rodeln eben nicht die Population Sportbeteiligter. „Erfolge sollen ja Aktivität nach sich ziehen, zur Gesunderhaltung der Bevölkerung beitragen. Im Bobsport beschränkt sich das auf ein paar hundert Menschen“, sagt Gebauer. Andersherum werde dem Schwimmen, als Kulturtechnik anerkannt wie das Essen mit Messer und Gabel, was schon die Jüngsten beim Seepferdchen lernen, der Hahn zugedreht. Und dann werden auch noch Persönlichkeit und Vorbilder gepredigt, die aber in der Realität keine Rolle spielen, sagt Gebauer. „Wir wollen doch auch anständige Menschen und nicht nur aus jungen Körpern rausholen, was geht“, warnt Gebauer. „Letzteres scheint mir für eine Gesellschaft wie unsere doch sehr armselig.“
Kanute Franz Anton fürchtet, dass das die Nachwuchssorgen im deutschen Sport abseits vom Fußball noch verschlimmern wird. „Das wird sich rumsprechen. Viele werden sich überlegen, ob sie das Risiko wollen.“ Glaubt man den Teilnehmerzahlen Deutscher Schülermeisterschaften, hat der Kanusport kaum an Talenten eingebüßt. In Leipzig ist sogar das Gegenteil der Fall. Verein und Betreiber machen etwas aus dem Kanal, der für die gescheiterte Bewerbung um Olympia 2012 gebaut wurde – eine deutsche Bewerbung, die immerhin noch auf den Weg gebracht wurde. Um die 30 Kinder zwischen sechs und elf Jahren trainieren sie beim Leipziger Kanu-Club aktuell. Die Zahl, berichtet Franz Antons Frau und Nachwuchstrainerin Rebekka, steigt seit einigen Jahren. Draußen zirkeln sie noch zwischen den blauen Barrieren auf weißen Wellen. Es war nur Regen, nicht schlimm, kein Gewitter, das aufzog. Ob Sturm noch aufzieht, wird die Zeit zeigen.