Nach Olympiasieg in Pyeongchang: Hinterlassen Savchenko und Massot Spuren im Eis?
Lange haben es keine deutsche Frauen mehr an die Spitze im Eiskunstlauf geschafft. Kann der Olympiasieg von Aljona Savchenko und Bruno Massot das jetzt ändern?
Es gehört zum Wesen der ganz Großen, im Sport wie anderswo, sich auch nach Erfolgen nicht auszuruhen, sondern immer schon nach vorn, auf die nächsten Herausforderungen, die nächsten Aufgaben zu blicken. Während andere noch von Glücksgefühlen beseelt sind, innezuhalten und nüchtern auf die Dinge zu schauen. Auch bei der Goldmedaille von Aljona Savchenko und Bruno Massot war das so. Im Moment des größten Triumphs war es die deutsche Eiskönigin Katarina Witt, die neben Freudentränen und Lob und Ergriffenheit nachdenkliche Worte fand. Witt, zweimalige Olympiasiegerin, weltweit geliebte Carmen, stellte also die Frage nach der Zukunft des deutschen Eiskunstlaufens. Weil das Paar, das Gold geholt hatte, eben nicht genuin deutscher Nachwuchs war, sondern eingebürgert. Nicht, dass sie diesen Sachverhalt an sich infrage gestellt hätte. Aber beide hätten eben keine deutsche Ausbildung durchlaufen, sie wurde in der Ukraine, er in Frankreich mehr oder weniger zu fertigen Läufern ausgebildet. Witt fragte also: Kommt denn da keiner mehr?
Es mag nicht nur Nachdenklichkeit, sondern auch ein bisschen verletzter Stolz gewesen sein. Immerhin geht es hier um ihr Erbe: Die Tradition des deutschen Eiskunstlaufs, vor allem die der Frauen, ist in der Ära Witt geprägt worden. Sie selbst profitiert als gutverdienende Fernsehexpertin und Werbeträgerin noch heute davon. Auf ihrer Internetseite verweist die Deutsche Eislauf- Union (DEU) darauf selbstverständlich und selbstbewusst: Deutschland zählt demnach noch immer zu den Top vier der Nationen bei Olympischen Spielen. Nur um die Nachfolge ist es seit den 90er Jahren nicht gut bestellt. Die aufgezählten Erfolge, zumindest die in Medaillen im Einzel, sind noch aus den 60er und 80er Jahren. Die letzte Top-Ten-Platzierung bei den einstmals so erfolgreichen Frauen stammt aus Lillehammer 1994, als Tanja Szewczenko Sechste wurde. Danach reichte es kaum noch zu den besten zwanzig, manchmal durfte auch gar keine teilnehmen.
Warum reicht es nicht mehr für die Spitze?
Die Konkurrenz hat dem deutschen Nachwuchs aus verschiedenen Gründen den Rang abgelaufen. Dass es mit eingebürgerten Paaren zum Teil besser lief, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Es wäre nicht weiter tragisch, wenn nicht so viel davon abhinge: Weil nun mit der Spitzensportreform Traditionen auf den Prüfstand gestellt und Mittel künftig nicht mehr nach alten Erfolgen, sondern Zukunftschancen verteilt werden sollen.
Viele Sorgen der Eiskunstläufer in Deutschland unterscheiden sich kaum von anderen Sportarten. Einige sind aber auch sehr speziell. Es gibt zu wenig Geld, zu wenig Trainer, zu wenig Hallen. Vor allem aber immer weniger Talente – oder zumindest weniger ambitionierte. Dass sie absolut weniger würden, kann Marina Kielmann nicht bestätigen. Kielmann, heute 50 Jahre alt, wurde 1988 beim umjubelten Olympiasieg von Katarina Witt und 1992 Olympia-Zehnte. Sie hat sich seit Jahren dem Nachwuchs verschrieben. Natürlich habe sie die Spiele in Südkorea verfolgt, sagt sie, ein fantastisches Paar, aber auch die Eistänzer und Einzelstarter hätten sich tapfer geschlagen. In Zahlen steht ein 22. Platz für den Berliner Paul Fentz, Rang 18 für Nicole Schott, das Eistanz-Paar Kavita Lorenz und Joti Polizoakis wurde 16. Im Teamwettbewerb verpasste Deutschland das Finale.
Abgesehen von Savchenko und ihren Partnern reicht es für die Deutschen schon lange nicht mehr für die Spitze. Aber warum eigentlich? Den Vereinen könne man in der Aufbauarbeit nur bedingt Vorwürfe machen, meint Kielmann. Aber es fehlt ihnen eben am nötigsten. „Wir haben nicht überall Eisbahnen.“ In den wenigen Hallen haben die Eisläufer gegenüber Eishockey und Publikumslauf oft das Nachsehen. In der Schule spielt der Sport keine Rolle. Oft könne man nur hoffen, dass Kinder ihn auf der Schlittschuhbahn des Weihnachtsmarkts für sich entdeckten. Vielen ist dann aber der Aufwand zu groß – oder es gibt zu viel anderes. Heute sagten ihr lustlose Kinder im Training, sie hätten ja noch Pferd und Klavier daheim stehen, sagt Kielmann. Anstrengen, geschweige denn quälen für den Erfolg wollten sich die wenigsten. Es sind eben andere Zeiten, sagt sie. „Für uns waren die Reisen ein Ansporn. Dass wir Freunde treffen konnten, denen wir sonst nur Postkarten schreiben durften. Wir wussten: Wenn du es zum Wettkampf nicht schaffst, siehst du die nie wieder. Aber heute zählt das nicht mehr. Meine erste WM in Neuseeland war für mich etwas ganz Besonderes. Heute fahren die Kinder da mal eben in den Urlaub hin.“
Lange Fahrten machen es nicht besser. Stützpunkte hat die DEU nur in Dortmund, Berlin, Oberstdorf, Mannheim und Chemnitz. Marina Kielmann ist deutschlandweit unterwegs. Sie trainiert außerhalb der großen Zentren – damit die Kinder, die es wirklich wollen, solange es geht daheimbleiben können. Es gehe ihr dabei auch um die Vorbildwirkung, sagt sie. „Wenn immer die Guten weggehen, zu wem sollen die Jungen dann aufblicken? Man muss im Training erleben: Das kann jemand, das will ich auch.“ Wer es weit bringen will, muss trotzdem irgendwann an die Stützpunkte.
Und dann ist der Sport trainingsintensiv. Zwei Stunden Eiszeit am Tag, dazu Ausdauer, Ballett, Sprungkrafttraining. Zwanzig Stunden pro Woche kämen da für Zehn- bis Zwölfjährige schon zusammen, sagt Marina Kielmann. Eigentlich muss man – so wie sie es selbst getan hat – mit drei oder vier Jahren anfangen. Mit zehn sollten die Doppelsprünge sitzen, mit zwölf die dreifachen. Das ist heute der Standard, sagt die Dortmunderin. Eine Entwicklung, die nicht alle positiv sehen. Bei internationalen Wettkämpfen haben Ermüdungsbrüche in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Angesprochen auf die Tendenzen in ihrem Sport sagte Witt bei den Spielen, sie hätte größten Respekt vor den Leistungen. Der Eiskunstlauf sei anspruchsvoll wie nie. Zu manchen Dingen, die 15-Jährige heute zeigten, sei sie zu ihrer besten Zeit nicht in der Lage gewesen. Aber man müsse jetzt auch gegensteuern, um die Kinder vor „Folgen fürs Leben“ zu schützen.
"Wenn wir bessere hätten, könnten wir die ja schicken"
Manch einer mag beim Lesen ihres Interviews in der „Süddeutschen Zeitung“ auch an Missbrauch gedacht haben. Der Sport mit seinen Abhängigkeiten, aber natürlich auch mit seiner Körperlichkeit war hier schon immer ein günstiges Feld, da muss man gar nicht die jüngst öffentlich gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs im amerikanischen Turnen oder im englischen Fußball hernehmen. Es ist auch der psychische Druck: Wenn etwa tausende Mädchen in den Eishallen Moskaus mitleidlos auf Hochleistung gedrillt werden. Mit Erfolg, wie sich auch in Südkorea zeigte. Jung und zierlich, kaum 1,60 Meter groß, mit dunklem Lidschatten und rotem Kussmund geschminkt sagte Goldgewinnerin Alina Sagitowa: „Ich wusste, ich hatte kein Recht, Fehler zu machen.“ Und das mit 15 Jahren. All das bleibt nicht ohne Folgen, wie das Beispiel einer Landsfrau zeigt. Julia Lipnizkaja wurde 2014 ebenfalls fünfzehnjährig in Sotschi unter Putins überschwänglichem Lob Olympiasiegerin. Drei Jahre später trat sie wegen Magersucht vom Leistungssport zurück. Auch das ist eine Gefahr der Entwicklung: Hohe und weite Sprünge, schnelle Drehungen sind eben leichter mit wenig Gewicht und vor der Pubertät, ohne weibliche Kurven. Wer mithalten will, muss mitmachen: bei Alter, Gewicht und Umfängen.
International gibt es deshalb immer wieder Diskussionen, das Mindestalter für Wettbewerbe nach oben zu setzen. Durchringen konnte sich der Weltverband bislang nicht dazu – auch angesichts starker Stimmen, die sich nicht nur in Russland finden. Zunehmend sind es auch asiatische Länder. Auch Marina Kielmann ist hin- und hergerissen. Geht es nur nach der Leistung, ist sie gegen die Grenzverschiebung. Schönheit und Sinnlichkeit liegen eben doch in der Perfektion der Elemente. „Physisch sind Teenager stärker belastbar. Es ist auch einfacher. Ohne Gewicht und Körperform sind Höchstleistungen möglich, die ältere gar nicht mehr erzielen können. Und mit dem Mindestalter von 15 Jahren ist Olympia ja auch keine Kinderveranstaltung.“
Bei aller Liebe für das, was glänzt: In Deutschland ist derlei Talententwicklung kaum gesellschaftsfähig. Anschluss mit Anstand kann also nur dann gelingen, wenn es Alternativen gibt. Marina Kielmann kann sich etwa andere Schulmodelle vorstellen. „Die USA und Russland zum Beispiel erlauben Fernunterricht, während wir Schulpflicht haben. Vielleicht sollte man überlegen, da die Grenzen zugunsten des Sports etwas zu lockern.“ Die Gesellschaft habe ja auch etwas davon, wenn Kinder aktiver leben und weniger krank sind, sagt sie.
Man müsse die Sogwirkung, die eine solche Goldmedaille – und zumal eine so spektakulär schöne – auf den Nachwuchs hat, nun auch nutzen. Damit mittel- bis langfristig wieder jemand oben ankomme. „Mädchen wollen jetzt werden wie Aljona“, sagt Marina Kielmann. Studien zeigen jedoch, dass Erfolge und Nachwuchsboom einander nicht zwingend bedingen. Eine jüngere Untersuchung der Goethe-Universität Frankfurt etwa zeigt im Tischtennis, dass dort, obwohl deutsche Sportler wie Timo Boll erfolgreich sind wie noch nie, die Mitgliederzahlen seit Jahren kontinuierlich sinken. „Erfolge können die, die im Sport involviert sind, schon motivieren“, sagt der Sportsoziologe Jan Haut. „Aber dass sie auch neue Leute in eine Sportart ziehen, das ist kein Automatismus.“
Muss man Erfolge also auch künftig einbürgern? „Wenn wir bessere hätten, könnten wir die ja schicken“, sagt Marina Kielmann. Sie versteht die Debatte nicht. „Das ist schon okay, wenn es den Regeln entspricht.“ Sie sieht darin auch eine Chance für den deutschen Nachwuchs. So könnten Savchenko und Massot bei der WM in Mailand Ende März mit einer entsprechenden Platzierung für künftige Wettbewerbe zwei Startplätze für Deutschland sichern. „Das würde dann ja auch wieder der Jugend den Weg bereiten.“
Anne Armbrecht
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