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Per Mertesacker ist jetzt EM-Rentner.
© 11 Freunde / Alan Powdrill

Per Mertesacker zur Fußball-EM: "Was Spanien kann, können wir auch"

Per Mertesacker im Interview über seine bewegte EM-Laufbahn, welche Rolle Jürgen Klinsmann und Joachim Löw dabei spielten und die Chance der Nationalelf auf den EM-Sieg nach dem WM-Titel.

Herr Mertesacker, welche Erinnerungen haben Sie an die EM 2004?

Oh, ganz konkret nur wenige. Das großartige Tor von Ruud van Nistelrooy beim 1:1 im Gruppenspiel gegen Holland habe ich noch vor Augen. Und ich weiß, dass wir die entscheidende Partie gegen Tschechien verloren und plötzlich schon ausgeschieden waren.

Zwischendurch gab es noch ein 0:0 gegen Lettland.

Lettland! Stimmt. Tja, und kaum hatte das Turnier begonnen, waren wir schon raus, das ging mir damals viel zu schnell. Jetzt fällt mir doch noch ein Detail ein: die Pressekonferenz, auf der Rudi Völler seinen Rücktritt bekannt gab.

Was sich schließlich als Beschleuniger für Ihre Karriere erweisen sollte. Völlers Nachfolger wurde Jürgen Klinsmann, der gleich mal ankündigte, „frischen Wind“ in die Nationalmannschaft zu bringen.

Am 29. September 2004, meinem 20. Geburtstag, rief Klinsmann bei mir an und teilte mir mit, dass er mich für das nächste Länderspiel nominieren werde. Das war irre. Ich hatte erst eine Handvoll Spiele für Hannover 96 gemacht, in der Vorsaison gerade noch den Abstieg verhindert. Plötzlich war ich Nationalspieler.

Aus dem Oktober 2004 gibt es ein schönes Zitat von Ihnen, kurz nach Ihrer Ankunft bei der Nationalmannschaft: „Direkt vom Flughafen abgeholt und ein Einzelzimmer im Hotel, das habe ich noch nicht erlebt!“

(lacht) Ich kam in eine für mich völlig andere Welt. Damals leistete ich noch meinen Zivildienst in einer geschlossenen Anstalt für geistig behinderte Menschen ab. Drei Stunden pro Werktag war ich dort beschäftigt. Und auf einmal öffnete mir ein Chauffeur gleich nach dem Aussteigen aus dem Flugzeug die Tür zur Limousine.

Nach der WM 2014 beendete Per Mertesacker seine Karriere in der Nationalmannschaft.
Nach der WM 2014 beendete Per Mertesacker seine Karriere in der Nationalmannschaft.
© dpa

Wie empfanden Sie diese ersten Eindrücke?

Es war eine echte Feuertaufe. Wir spielten auswärts gegen den Iran. Allein die Anreise war der Wahnsinn. Ich fühlte mich in einer Art Glamourwelt. Es gibt viele junge Fußballer, denen solch ein Rummel aus heiterem Himmel nicht guttut. Ich kam damit, auch dank meiner Zivi-Tätigkeit und meinem Elternhaus, ziemlich gut klar. Einen Tag nach meiner Rückkehr aus dem Iran als frisch gebackener Nationalspieler steckte ich auch schon wieder den Schlüssel ins Haupttor der geschlossenen Anstalt. Ein krasser Kontrast, aber auch eine krasse Erfahrung.

Die Mannschaft, zu der Sie damals stießen, hatte gerade erst eine der größten Pleiten der deutschen Turniergeschichte hinnehmen müssen. Wie war die Atmosphäre im Post-EM-Kader?

Es herrschte ein sehr respektvoller Umgang. Ich glaube, dass jeder, Spieler und Trainer eingeschlossen, davon überzeugt war, dass die Nationalmannschaft einen echten Umbruch benötigte. Und weil Platzhirsche wie Michael Ballack sehr schnell bemerkten, dass die jungen Neulinge um Bastian Schweinsteiger oder auch Lukas Podolski, Philipp Lahm und meiner Wenigkeit alles geben wollten, um dem Team zum Erfolg zu verhelfen, war das Eis schnell gebrochen.

Alte Haudegen, die den Nachwuchs zunächst mal mit Argwohn betrachteten, suchte man vergeblich?

Ja. Das war eine andere Generation, die genau wusste, was für den Erfolg erforderlich war. Sehr professionell. Denen war das Alter egal, sobald man sich mit voller Kraft reinwarf. Und das taten wir.

Wie wichtig war der neue Nationaltrainer Klinsmann in dieser Phase?

Seine Rolle können wir heute gar nicht hoch genug einschätzen. Denn um wirklich einen Umbruch in die Wege zu leiten, braucht man einen Trainer, der Widerständen trotzt und sein Ding durchzieht. Das hat Klinsmann gemacht. Spätestens beim Confed-Cup 2005 erfuhr ich das am eigenen Leib. Da sagte er zu mir: „Per, komme, was da wolle: Du spielst bei mir! Du wirst 2006 bei der WM auf dem Rasen stehen.“ Noch 2004 war ich fest davon überzeugt, die WM im eigenen Land als Fan vor dem Fernseher zu verfolgen. Selbst 2005, als ich schon Nationalspieler war, konnte ich nicht davon ausgehen, dass mir der Bundestrainer so vertrauen würde. Aber er tat es, allen Expertenmeinungen, ich sei noch zu grün hinter den Ohren, zum Trotz.

Hat das Ihren Aufstieg beschleunigt?

Das brachte mir ein unglaubliches Selbstbewusstsein, was sicherlich entscheidend dafür war, dass ich 2006 so ein gutes Turnier spielte.

Vor der EM 2008 erzählten Sie davon, wie Klinsmann im Vorfeld des Turniers zu Ihnen kam und sagte: „Per, du bist am längsten dabei. Du musst die Jungs führen!“ Da waren Sie erst 23 Jahre alt.

Und trotzdem schon seit vier Jahren Nationalspieler. Außerdem seit zwei Jahren bei Werder Bremen und damit Dauergast in der Champions League. Meine Karriere machte unglaubliche Sprünge nach vorne. Ich war zwar jung, fühlte mich aber wie ein alter Hase auf dem Platz. Auch in der Nationalmannschaft schlüpfte ich eine neue Rolle, war Teil des Mannschaftsrates und spürte plötzlich richtig Verantwortung auf meinen Schultern. Zum Glück hat mir das nie etwas ausgemacht. Wenn es hieß: Per, wir verlangen das und das von dir, dann brachte ich die erwünschten Ergebnisse.

Und mutierten zum Platzhirsch in der DFB-Auswahl?

2006 lastete nicht wirklich Druck auf mir. Da hat Michael Ballack alles absorbiert – und wir Jungen waren sehr dankbar dafür. 2008 war Michael noch immer die unumstrittene Führungsfigur, aber wir konnten ihm jetzt auch Verantwortung abnehmen.

2008 verpassten Sie bei der EM nicht eine Minute – verraten Sie uns, wie intensiv man als Spieler solch ein Turnier wahrnimmt.

Schon die Vorbereitungszeit ist extrem: Wochenlang hockst du mit den gleichen Gesichtern Tag für Tag aufeinander, fühlst dich auch mal zusammengepfercht. Das Risiko, dass schlechte Stimmung entsteht, ist hoch. Wenn sich innerhalb der Gruppe kleinere Grüppchen bilden, die sich voneinander abgrenzen, kann es ganz schnell krachen. Auch wir hatten 2008 kritische Phasen: nach der holprigen Gruppenphase krachte es ordentlich im Gebälk. Da trafen viele verschiedene Meinungen aufeinander, die Anspannung war offensichtlich.

Wie haben Sie das gelöst?

Indem wir uns ausgesprochen haben. Die Niederlage gegen Kroatien, das Spiel gegen Österreich, unsere Spielweise, alles – nur mit einer offenen und ehrlichen Diskussion kann man dann verhindern, dass wirklich schlechte Stimmung aufkommt. Das haben wir damals geschafft.

Über die Erfolge gegen Portugal im Viertelfinale und die Türkei im Halbfinale zog die DFB-Auswahl ins Endspiel ein.

Gerade das Türkei-Spiel hatte alles, was zu so einem Turnierspiel dazugehört: Wir spielten nicht wirklich gut, zeitweise waren die Türken besser – aber wir kamen immer zurück, setzten immer noch einen drauf, wenn es schon niemand mehr für möglich hielt. Schweinis 1:1 kurz nach dem Führungstreffer durch Boral, die Führung durch Miro Klose und natürlich der Siegtreffer von Philipp Lahm. Und genau wegen solcher Spiele wird die deutsche Nationalmannschaft als Turniermannschaft bezeichnet. Nur schade, dass Spanien damals noch eine Nummer zu groß für uns war.

Vier Jahre später fuhren Sie unter ganz anderen Voraussetzungen zur Europameisterschaft. Drei Monate fielen Sie wegen einer Knochenabsplitterung im Sprunggelenk aus, kurzzeitig war sogar unklar, ob Sie es überhaupt zur EM schaffen würden.

Ich war mir tatsächlich eine Zeit lang nicht sicher, ob ich es wirklich packen würde. Dann wurde ich rechtzeitig gesund, wurde nominiert und fuhr zur Vorbereitung in der festen Überzeugung, das Turnier als Stammspieler zu bestreiten.

Und dann?

Irgendwann bat mich Jogi Löw zum Gespräch und erklärte mir, dass er mich aufgrund meiner Verletzung und meiner fehlenden Spielpraxis auf der Bank lassen werde. Natürlich war ich zunächst geschockt, fragte: „Ich dachte, Sie vertrauen mir?“ Nachts lag ich wach, durch meinen Kopf rasten viele negative Gedanken. Bin ich jetzt ein schlechterer Mensch? Was denken die anderen? Was für Auswirkungen hat das auf meine Karriere? Doch schnell relativierte sich das dann. Ich nahm mir vor, die neue Situation positiv anzugehen.

Und wie schafft man das?

Ich war zwar nicht mehr gesetzt, aber ja noch immer Teil des EM-Kaders. Also erinnerte ich mich daran, wie sich unsere Ersatzspieler bei den vorangegangenen Turnieren verhalten hatten. Wer wie was gemacht hatte. Und ich stellte fest, dass man auch als Reservespieler Einfluss auf den Erfolg haben kann. Dementsprechend suchte ich mir meine Rolle als Zulieferer und Unterstützer von der Bank – natürlich immer vor dem Hintergrund, dass ich darauf brannte, doch eingesetzt zu werden.

Tatsächlich kamen Sie bei der EM 2012 nicht eine Minute zum Einsatz. Wie enttäuscht waren Sie wirklich?

Ehrlich: gar nicht. Ich versuchte stattdessen, meine Erfahrungen zu teilen, viel mit den anderen Jungs zu sprechen, zu motivieren, über Stärken und Schwächen von Gegenspielern aufzuklären. Hansi Flick kam auf mich zu und fragte: „Wie und wo kannst du uns jetzt weiterhelfen?“ Eine unglaublich lehrreiche Zeit, ich machte neue Erfahrungen, von denen ich glaube, dass sie mir bis heute im Leben weiterhelfen.

Wir nehmen Ihnen trotzdem nicht ab, dass Sie nicht doch enttäuscht von dieser neuen Rolle waren.

Die Enttäuschung kam erst beim Ausscheiden im Halbfinale gegen Italien. Hätte ich der Mannschaft nicht doch helfen können? Solche Fragen spukten durch meinen Kopf. Aber nach einem solchen Ausscheiden wird erst mal alles infrage gestellt. Woran hat es gelegen? Sind wir noch nicht weit genug? Und vor allem: Ist das noch der richtige Trainer? Der damalige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach reagierte damals genau richtig: Gleich abends beim Bankett nach dem Halbfinal-Aus stellte er klar: „Jogi bleibt unser Mann!“ Eine ziemlich weise Entscheidung, wie heute jeder weiß.

Für unser Fotoshooting als Fußball-Rentner trugen Sie ein DFB-Trikot von Benedikt Höwedes – warum?

Weil er ein guter Freund ist. Vielleicht hat uns die EM 2012 erst richtig zusammen- wachsen lassen, Benni saß wie ich das komplette Turnier nur auf der Bank. Wir konnten uns beide dieser Aufgabe stellen, da kommt man sich natürlich näher.

Wie bewerten Sie heute, eine gewonnene WM später, das Aus bei der EM 2012?

Im Nachhinein betrachtet war es ein „gutes Ausscheiden“. Es hat unsere letzten Fehler offenbart und alle Beteiligten nur noch hungriger auf einen Titelgewinn gemacht. Der Sieg 2014 ist auch eine Folge der Halbfinal-Niederlage von 2012.

Die aktuelle Mannschaft hat nach dem WM-Sieg einen Umbruch verkraften müssen. Sie, Philipp Lahm und Miroslav Klose traten zurück, auch der Hunger nach einem großen Titel ist gestillt. Nicht unbedingt die idealen Voraussetzungen, oder?

Naja, eine gewisse Beunruhigung hat uns schon immer gutgetan. Das war 2006, 2008, 2010 und 2012 auch schon so – und immer hat die Mannschaft die Erwartungen im Vorfeld übertroffen. Das wird auch bei diesem Turnier so sein. Das Team ist sehr stabil, hat viele großartige Spieler und Siegertypen. Der Druck, als Weltmeister bei der EM was zu reißen, ist da. Aber genau das liegt der Nationalmannschaft ja – sich freizuschwimmen, in den entscheidenden Momenten abzuliefern und damit schließlich Erfolg zu haben. Warum sollen wir uns nicht am Vorbild Spanien orientieren? Die holten 2012 auch als Weltmeister den Titel. Ich sage mal: Das können wir auch.

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