Per Mertesacker im Interview: "Weltmeister! Das ist für die Ewigkeit"
Per Mertesacker spricht im Tagesspiegel-Interview über Fußballspielen mit dem FC Arsenal am 26. Dezember, seinen Blick von London aus auf Deutschland und den Titel in Brasilien.
Herr Mertesacker, gibt es etwas, das Sie in London an Weihnachten vermissen?
Ja, schon. In England ist das die intensivste Fußballzeit überhaupt, da wird auf festliche Akte wie Weihnachten oder Silvester keine große Rücksicht genommen. In Deutschland kann man sich Weihnachten zurückziehen und über gewisse Dinge nachdenken. Hier musst du dich auf die Spiele fokussieren, diesen Tunnelblick haben, um deine Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Klar fehlt mir jetzt was, aber ich bin professionell so aufgestellt, dass ich mich daran gewöhnt habe. So schnell geht das, leider.
Ist es immer noch seltsam, am zweiten Weihnachtstag Fußball zu spielen?
Auf jeden Fall. Ich will das auch überhaupt nicht abstreiten. Das ist die Zeit, die mir am meisten fehlt. Das Wandern im Harz, wo meine Eltern herstammen. Oder meine Jungsrunde, mit der wir uns Weihnachten immer treffen. Das geht mir schon ab. Da kommt der Weihnachtsmann, da gibt’s ’ne Schlachteplatte, es wird ein bisschen gekickt. Das fehlt mir. Ich möchte auch kaum telefonieren in dieser Zeit und mir anhören, was ich alles verpasse. Ich weiß, dass es gut ist. Das muss ich nicht auch noch aufs Brot geschmiert bekommen.
Sie haben es sich so ausgesucht.
Ja, es macht mich auch stolz, dass ich die Möglichkeit habe, Weihnachten und Neujahr zu spielen. Und ich wusste auch, was auf mich zukommt. Wobei es natürlich vorher in Gedanken immer anders ist als am Ende in der Wirklichkeit. Auf der Insel zu spielen – das war immer ein Ziel von mir. Dass es keine Winterpause gibt, das nimmt man irgendwie so hin. Was es wirklich bedeutet, kriegt man aber erst mit den Jahren mit. Trotzdem: Dass ich hier spielen darf, zieht mich positiv rüber ins neue Jahr.
Bleibt Ihre Familie Weihnachten lieber in der Heimat?
Nein, meine Familie zieht da voll mit. Meine Eltern freuen sich schon auf London, sie freuen sich auf den Boxing Day, sie freuen sich auf Fußball. Wir versuchen, auch hier unsere Traditionen zu pflegen, wir gehen zusammen in die Kirche. Aber ich bin halt immer etwas außen vor. Bescherung, Essen, aber immer mit einem Blick auf den 26. Unser Trainer Arsène Wenger versucht das so einzurichten, dass wir als Spieler ein bisschen Zeit mit der Familie verbringen können. Trotzdem bleibt es ein anderes Weihnachten.
Werden Sie die Muße, über alles noch einmal nachzudenken, in diesem Jahr noch stärker vermissen?
Das kann passieren. Es wäre absolut nötig, all das, was in diesem Jahr passiert ist, noch einmal wirklich zu reflektieren. Auch um sagen zu können: Ich weiß jetzt, warum es weitergeht. Ich weiß, was meine neue Motivation ist. Das wäre jetzt die ideale Zeit und wird mir sicherlich fehlen. Ich hoffe, ich finde wenigstens ein bisschen Ruhe, um das Ganze mit meiner Familie noch einmal zurückzuspulen. Es war ja nicht nur sportlich ein emotionales Jahr mit der Weltmeisterschaft, sondern auch privat.
Ihr zweites Kind wurde kurz vor der WM geboren.
Man stellt sich natürlich die Frage: Konnte ich das alles so mitnehmen, wie ich es wollte? Konnte ich alles so zelebrieren, wie ich es wollte? Hat man wirklich schon alle Eindrücke verarbeitet? All diese Fragen kann ich jetzt eigentlich noch nicht beantworten.
Haben Sie das Gefühl, dass die WM gewissermaßen noch unbearbeitet in der Gegend herumsteht?
Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht genau, wie sehr ich diese Erfahrung verarbeiten muss, bevor ich sagen kann: Okay, jetzt bin ich wieder bereit für neue Aufgaben. Das ging nach dem Turnier alles so fix. Man hatte auch als Mannschaft gar nicht die Zeit, sich wirklich noch mal miteinander zu beschäftigen. Nach dem Finale wollten eigentlich alle nur noch möglichst schnell nach Hause.
Hadern Sie damit?
Es gibt einfach viele Dinge, die ich gerne anders ausgelebt hätte, auch den Urlaub danach. Aber das Fußballgeschäft ist ein großer Kompromiss, den du eingehen musst. Meine Frau hat irgendwann zu mir gesagt: Alles andere als der WM-Titel hätte das nicht entschuldigt. Das waren wirklich acht harte Wochen, auch für meine Frau. Zwei Tage nach der Geburt unseres Sohnes bin ich zur Nationalmannschaft ins Trainingslager geflogen. Dein Kind kommt zur Welt, und du erlebst das nur zwischen Tür und Angel. Aber so ist es als Fußballprofi. Du hast nur eine begrenzte Zeit, und in dieser Zeit ist alles wie im Zeitraffer, da muss alles untergebracht werden. Ich hoffe, dass ich wenigstens nach meiner Karriere die Zeit finde, um bestimmte Dinge aufzuarbeiten. Reflektieren, was alles passiert – das geht eigentlich nur, wenn du mal verletzt bist.
Was war der Grund, nicht mehr für die Nationalmannschaft zu spielen?
War das auch ein Grund, nicht mehr für die Nationalmannschaft zu spielen?
Absolut. Im Nachhinein gab es ganz viele Gründe, warum dieser Schritt richtig war. Ich habe zehn Jahre für die Nationalmannschaft gespielt. Diese zehn Jahre möchte ich jetzt festhalten. Es war eine hervorragende Zeit, und ich möchte nichts überstrapazieren. Wir haben es so oft versucht und sind immer oft kurz vor dem Ziel gestrauchelt – und auf einmal ist der Titel da. Weltmeister! Das ist für die Ewigkeit.
Wie sehr hat es Sie angetrieben, nicht als die Generation in die Geschichte einzugehen, die den Titel nicht ins Ziel gebracht hat?
Klar hat man sich ab und zu Gedanken gemacht, dass es für uns ältere Spieler vielleicht die letzte Chance ist. Aber diesen Druck haben wir uns nie groß aufgebürdet. Es hat uns eher geholfen.
Inwiefern?
Wir hatten Spieler dabei, die schon sehr viel mitgemacht haben, die auch als Persönlichkeit sehr gewachsen waren – ich glaube, das ist uns dieses Mal zugute gekommen. Persönliche Dinge haben keine Rolle gespielt. Im Endeffekt war die Mannschaft erfolgreich. Diese Identität während des Turniers zu finden, das war ganz wichtig. Es gab viele Schlüsselszenen, wo sich einzelne Spieler in den Dienst der Mannschaft gestellt haben. Deshalb war die persönliche Genugtuung, den Titel geholt zu haben, dem Mannschaftsgedanken absolut untergeordnet. Nur deshalb können wir uns jetzt Weltmeister nennen.
Wann hat sich bei Ihnen die Entscheidung verfestigt, dass es Zeit ist, zurückzutreten?
Eigentlich war es mir schon nach dem Finale in der Kabine klar. Da wusste ich: Okay, das war’s. Trotzdem habe ich noch ein bisschen Zeit gebraucht, um mich zu sammeln.
War sonst schon jemand eingeweiht?
Nicht grundsätzlich. Aber alle, die ich damit konfrontiert habe, haben gesagt: Das ist die richtige Entscheidung, und es ist auch der richtige Zeitpunkt. Mir war klar: Die Intensität nimmt nicht ab, besonders im nächsten halben Jahr nicht. Aber ich wusste, dass ich auf jeden Fall Zeit für mich brauche, vor allem die Länderspielpausen, um wieder neue Kraft und neue Motivation zu schöpfen. Es gibt jetzt einfach ein bisschen mehr Zeit für andere Dinge. Wir haben ja auch noch ein reguläres Leben außerhalb des Sports.
Empfinden Sie keine Wehmut?
Natürlich kommt im Nachhinein immer wieder ein bisschen Wehmut auf, aber ich habe den Schritt zu keiner Zeit bereut. Ich habe immer ein Lächeln, wenn ich an die zehn Jahre zurückdenke, ich bekomme immer eine Gänsehaut – und das will ich einfach für mich in Ehren halten. Ich möchte nicht, dass irgendwann die Diskussion aufkommt: Was will der eigentlich noch in der Nationalmannschaft? Das hab’ ich nicht nötig, und das will ich mir auch nicht geben nach so einer schönen Zeit. Diese Gedanken hatte ich nach dem Finale, und die haben mir diesen Schritt auch leichter gemacht.
Was hat Joachim Löw gesagt?
Er hat es gleich respektiert. Weil wir beide dankbar sind für die Zeit miteinander. Er hat nie versucht, mich umzustimmen. Damit war das Kapitel geschlossen.
Welche Rolle hat die Nationalmannschaft für Sie gespielt, gerade seitdem Sie in England leben?
Es war immer wie eine schöne Rückkehr in die Heimat. Ich habe das sehr genossen, auch weil sich das Umfeld in den zehn Jahren kaum veränderte. Dadurch war die Nationalmannschaft immer ein Rückzugsort für mich. Gerade die Turniere, als das Land wieder ein bisschen zusammengewachsen ist, habe ich aufgesogen. Seit 2006 habe ich das Gefühl, dass man sich auch wieder zeigen kann als Deutscher, als stolze Nation. Dass wir Deutschland wieder zusammengebracht haben, diese Momente konserviere ich.
Macht Sie das ausschließlich stolz? Oder irritiert es Sie auch, weil so etwas Banales wie der Fußball das geschafft hat?
Als Gastgeber der WM, wenn die Welt zu Gast bei Freunden ist, mussten wir uns ja auch den anderen Nationen gegenüber als Nation präsentieren. Das war eine Bürde. Aber dann hat alles zusammengepasst. Dieses Fröhliche, dieses Emotionale, dieses schöne Land mit einem sensationellen Wetter und mit einer Mannschaft, die sich von einer sehr positiven Seite präsentiert. Da haben sich auch die anderen Nationen gefragt: Was ist hier eigentlich los? Wir haben das einfach genutzt, unbewusst genutzt, so dass die Menschen ihren Stolz auf das Land zeigen konnten und plötzlich überall Fahnen zu sehen waren. Das ging aber auch nur, weil wir uns sportlich verbessert haben. Es wäre nicht gegangen, wenn wir die Vorrunde nicht überlebt hätten. Da gab es Schlüsselmomente, wie das Tor gegen Polen in letzter Minute. Plötzlich hattest du dieses Gefühl: Wir sind ein Team, wir sind eine Nation im übergeordneten Sinne. Trotzdem ist es krass, dass der Fußball für so etwas gebraucht wird.
Der Sport bringt Menschen zusammen …
Dieses Phänomen hat man immer wieder, das stimmt. Es war insgesamt gut für Deutschland, auch wenn es aus meiner Sicht nicht der Fußball hätte sein müssen. Aber die Kampagne „Du bist Deutschland“ hätte auch nicht gereicht. Natürlich war die positiv und gut gemeint, aber Emotionen werden eben erst frei, wenn gegen Polen in der 90. Minute das 1:0 fällt, wenn sich Gott und die Welt in den Armen liegen, egal ob man sich kennt oder nicht. Das ist dieses Gefühl von Einheit, das die Deutschen auch gegenüber der restlichen Welt haben vermissen lassen. 2006 haben wir uns das ein bisschen zurückerobert und es auch wirklich gelebt.
Hat die Zeit in England seinen Blick auf Deutschland verändert?
Vielleicht kann man nur zu anderen freundlich sein, wenn man auch zu sich selbst freundlich und mit sich im Reinen ist.
Ich glaube, das wurde Zeit. Ganz im Ernst. Die Generationen, die an den Kriegen beteiligt waren, leben jetzt ab. Wir wollen unsere eigene Identität finden als Deutsche. Ich glaube, es war der richtige Zeitpunkt, da den Hebel anzusetzen.
Hat die Zeit in England Ihren Blick auf Deutschland verändert?
Ich bin froh, Deutschland auch einmal aus einer anderen Perspektive beobachten zu können. Ich wollte auch mal sehen, wie es im Ausland um die Deutschen bestellt ist, wie sehr ich mir dort als deutscher Spieler den Respekt verschaffen kann, den ich in Deutschland irgendwie automatisch habe.
Und?
Die deutschen Tugenden sind auch hier sehr anerkannt. Deswegen hatte ich nie Probleme. Im Gegenteil. Ich war verwundert, wie offen und respektvoll die Leute von Anfang an mit mir umgegangen sind.
Und das hat nichts mit Ihrer Körpergröße von fast zwei Metern zu tun?
Anscheinend nicht. Ich glaube, die Leute hier schätzen es, wenn man sich als Fußballer voll für seinen Klub einsetzt und sich mit ihm identifiziert. Dass ich von Anfang an versucht habe, die Kultur zu leben, die Sprache zu sprechen, das waren die Schlüssel, die ich versucht habe zu verwenden. Andere Dinge kann man nicht ändern.
Welche zum Beispiel?
Wir sind in London schon zweimal umgezogen. Die Häuser haben hier bauliche Probleme. Ich sage nur – Einfachverglasung. Im Sommer fällt dir das nicht auf, aber im Winter! Auf einmal zieht es überall. Mit Kleinkindern denkt man dann: Boah, wir müssen hier sofort raus. Aber das nehmen wir an. Wir saugen hier als Familie so viel auf wie möglich. Trotzdem wollen wir irgendwann zurück und wieder das haben, was wir an Deutschland schätzen und lieben. Wir fühlen uns hier sehr wohl, in Deutschland würden wir uns noch wohler fühlen.
Sehen die Engländer die Deutschen anders, als Sie erwartet hätten?
Ja, allein die Schuldproblematik durch die Kriege schwirrt hier immer um einen herum. Trotzdem habe ich als Deutscher Respekt erfahren. Das liegt vielleicht auch daran, dass Jens Lehmann bei Arsenal gute Vorarbeit geleistet hatte. Jens hat Dinge wie Disziplin und Verlässlichkeit vorgelebt und immer seine Leistung gebracht. Da hat mich schon überrascht, wie offen, herzlich und aufgeschlossen die Leute gegenüber uns Deutschen waren. Hatte ich so nicht erwartet.
Warum nicht?
Gerade hier in der Gegend leben sehr viele Juden. In ihrer Geschichte haben sie viel Leid durch die Deutschen erfahren. Vor ein paar Wochen war ich zu Gast in der Synagoge einer jüdischen Gemeinde hier in Nord-London. Das war sensationell – weil man da endlich mal Barrikaden überwindet, die es eigentlich gar nicht gibt.
Wie kam es dazu?
Das war die Idee eines deutschen Journalisten, der seit zehn Jahren in London arbeitet und selbst Jude ist. Ich war sofort begeistert.
Haben Sie da einen Vortrag gehalten?
Ich habe einfach ein paar Dinge erzählt, die ich hier erlebt habe. Dass ich von meinen Nachbarn, die auch Juden sind, eingeladen worden bin und jüdische Feste mit ihnen gefeiert habe. Dass ich auch schon Auschwitz besucht habe. Interessanterweise waren die Leute in der anschließenden Fragerunde gar nicht so fixiert auf dieses Thema. Sie haben sich mehr für Arsenal interessiert und wollten wissen, was bei uns los ist. Es ist einfach gut, wenn man aufeinander zugeht und erzählt. Wenn man Dinge nicht kennt, muss man miteinander reden. Dann sieht die Welt schon ganz anders aus.
Nämlich wie?
Bis zu diesem Tag war ich bei diesem Thema eher ängstlich und unsicher. Ein Besucher hat erzählt, dass seine Großeltern Deutsche gewesen seien. Nach dem, was passiert ist, wollten sie die deutsche Sprache nicht mehr an ihre Kinder weitergeben. Das war für mich schon beklemmend, aber wir haben einfach weitergequatscht. Das war gut, das hat Brücken gebaut. Und ich hätte nicht gedacht, dass man auch so viel miteinander lacht. Der Tenor war: Wir wollen uns gemeinsam erinnern, es aber künftig besser machen.
Sie erleben jetzt schon Ihr viertes Weihnachtsfest in London. Als was empfinden Sie sich, als Zuwanderer, Einwanderer oder doch eher als Durchreisender?
Schwierig. Als Fußballer ist man eigentlich immer irgendwie auf Durchreise. Für mich ist London wie ein zweites Leben. Ich würde gern Spuren hinterlassen. Nicht wie ein Söldner rüberkommen, der nach ein paar Jahren wieder abzieht und viel Ärger hinterlässt. Das ist nicht mein Ideal. Für mich muss das total intensiv sein und mit einer hohen Identifikation verbunden.
Wie äußert sich das?
Die Sprache macht viel aus. Meine Frau und ich, wir sind mit wenig Englisch hierhergekommen, trotzdem habe ich Interviews von Anfang an nur auf Englisch gegeben. Ich habe sogar gesagt: Alle drei Wochen möchte ich in die Kamera sprechen. Damit ich mich selber fordere und die Verbesserungen sehen kann. Außerdem trägt das zur Identifikation bei. Auch wenn es am Anfang fehlerhaft ist – die Leute sehen: Der will. Dann läuft die Integration ganz von alleine.
Das Gespräch führten Stefan Hermanns und Michael Rosentritt.