BIG FOUR - Die US-Sport-Kolumne: Was der Erfolg der Raptors für Kanada bedeutet
Toronto führt in den NBA-Finals 2:1 und wird von ganz Kanada unterstützt – einem Land, dass sich in Sachen Basketball vor niemandem mehr verstecken muss.
Auf dem Papier sind die diesjährigen Finals der nordamerikanischen Basketball-Profiliga NBA ein Duell der in Oakland beheimateten Golden State Warriors und der Toronto Raptors. Man kann das Aufeinandertreffen aber auch so darstellen: Die Warriors spielen gegen ganz Kanada.
Die Raptors repräsentieren die Nord-Nordamerikaner erstmals in den Endspielen der NBA. Nach dem Finaleinzug sangen hunderte Fans auf den Straßen der multikulturellen Metropole ihre Nationalhymne. Das erste Spiel der Final-Serie sollen laut „Sportsnet“ bis zu 7,4 Millionen Kanadier, also rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung, an den Fernsehgeräten verfolgt haben – kanadischer Rekord.
Aktuell steht es in der Best-of-Seven-Serie 2:1 für Toronto. In der Nacht zu Donnerstag gewannen die Raptors in Oakland 123:109 und holten sich den Heimvorteil zurück. Ohne die verletzten Kevin Durant, Klay Thompson und Kevon Looney reichten dem Titelverteidiger auch 47 Punkte von Steph Curry nicht.
Der Gewinn des NBA-Titels – er wäre nicht nur ob der klaren Favoritenrolle der Warriors eine Sensation, er wäre auch der erste große Titelgewinn eines kanadischen Sportteams seit 1993. Und es wäre ein weiterer Schritt zu Kanadas Emanzipation im zweitbeliebtesten US-Sport nach dem American Football und in der sportlichen Rivalität mit den USA per se.
In der spielten die Kanadier nur zu oft die Rolle des kleinen, belächelten Bruders. Die Toronto Blue Jays gewannen 1992 und 1993 die World Series der Major League Baseball – danach standen sie nie mehr im Finale. Auch im Eishockey warten die kanadischen Teams der NHL seit 26 Jahren auf einen Titel. Hinzu kommt, dass viele Sportler aufgrund der Kälte, mangelnder Popularität der Teams und der Hürde des Umzuges in ein anderes Land lange kaum Interesse an den Mannschaften aus Kanada hatten.
So wie der US-Amerikaner Steve Francis. Der einstige Basketball-Profi wurde 1999 von den Vancouver Grizzlies (die mittlerweile in Memphis zuhause sind) gedraftet, weigerte sich aber, für das Team zu spielen und erzwang förmlich ein Tauschgeschäft, in dem er nach Houston transferiert wurde. „Ich musste fast weinen, als Vancouver mich auswählte. Ich wollte auf keinen Fall in dieses eiskalte Kanada, weit weg von meiner Familie und meinen Freunden.“
Augenhöhe im Eishockey
Im Eishockey begegneten sich die Männer-Nationalmannschaften über Jahre auf Augenhöhe. Bei den Frauen trugen die beiden Nationen von 1990 bis 2018 jedes WM-Finale unter sich aus. Die ersten acht Titel holten dabei die Kanadierinnen, seitdem gewannen die US-Amerikanerinnen acht der letzten zehn Finals, 2019 gegen Finnland. 2019 spielten die Frauen-Teams erstmals in der neugeschaffenen „Rivalry Series“ gegeneinander. Kanada gewann die Premiere.
Die größte Sensation spielte sich aber 2006 im Baseball ab, als Kanada die USA 2006 während des World-Baseball-Classic-Turniers schlug. In Kanada wurde der Sieg als kleines Wunder gefeiert. Im Männer-Fußball dominiert klar die USA, im Frauen-Fußball sind die beiden Nationen eher auf Augenhöhe.
Keine Rolle spielt Kanada dagegen im Football. Die Canadian Football League (CFA) besteht heutzutage nur aus kanadischen Teams, in den 90ern expandierte sie in die USA, aus der sich sieben Mannschaften der Liga anschlossen. Die amerikanischen Teams fochten aber wiederholt die Regeln der kanadischen Liga an, wo die Offensivreihen nur drei statt vier Versuche pro Angriff haben, und machten sich mitunter sogar für eine Namensänderung stark, die weg vom rein kanadischen Branding gehen sollte. Nach nur zwei Jahren scheiterte das Projekt an zu viel Stolz und auch an zu großen finanziellen Verlusten. Heute gilt die CFA als zweitklassige Liga und als Sammelbecken für gescheiterte NFL-Profis.
14 Kanadier spielen in der NBA
Dagegen schreibt Kanada im Basketball eine Erfolgsgeschichte. 128 Jahre nachdem der Kanadier James Naismith die Sportart erfand, spielen 14 Kanadier in der NBA. Immer mehr hervorragend ausgebildete, junge Talente wie der hochgehandelte College-Absolvent R.J. Barrett strömen in die NBA. „Wir waren ewig die Underdogs. Das hat uns stark gemacht“, sagt Denver-Nuggets-Spielmacher Jamal Murray, der aus einem Vorort von Toronto stammt.
Verantwortlich für diesen Erfolg sind auch die Toronto Raptors – und US-amerikanische Basketballer, die Toronto als Chance begriffen. Spieler wie Vince Carter, Chris Bosh und allen voran DeMar DeRozan, der die Raptors als bester Punktesammler der Teamgeschichte anführt, machten aus dem unattraktiven Standort Toronto mit Leidenschaft und konstant guten Leistungen einen NBA-Hotspot mit dem vielleicht lautesten Publikum der Liga und einer reichen Streetball- und Amateur-Basketball-Kultur.
Die Raptors verschafften dem Land ein großes Stück mehr sportliche Identität. Kanada – das ist mittlerweile auch eine Basketball-Produktionsstätte, die sich immer mehr mit den USA messen kann. Der erste Titelgewinn wäre die logische Konsequenz dieser Erfolgsgeschichte.
Louis Richter