Chefcoach winkt der Meistertitel: Warum Aito Garcia Reneses schon jetzt eine Alba-Legende ist
Am Sonntag könnte Trainer Reneses erstmals Meister mit Alba Berlin werden. Im Klub hat er jedoch bereits Wertvolleres hinterlassen als Siege: seine Philosophie.
Kurz vor dem Ende der ersten Halbzeit tat er es dann doch. Exakt zwei Stunden, drei Minuten und 26 Sekunden waren bis dahin in den letzten Spielen von Alba Berlin vergangen, und Aito Garcia Reneses hatte in dieser Zeit das getan, was der Chefcoach am liebsten tut: einfach Basketball spielen lassen.
Am Freitagabend hatte nun jedoch der junge Ludwigsburger Lukas Herzog einen Dreier getroffen und sein Team im Hinspiel des Finales um die deutsche Meisterschaft zumindest wieder ein wenig näher an die bereits komfortabel führenden Berliner herangebracht. Reneses tat also das, was er in der gesamten K.o.-Runde beim Finalturnier der Basketball-Bundesliga in München erst ein einziges Mal getan hatte, im Viertelfinal-Rückspiel gegen Göttingen nämlich: Er nahm eine Auszeit.
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In den natürlichen Fluss des Spiels einzugreifen, den Rhythmus von außen zu beeinflussen, das ist etwas, das Reneses nach wie vor nicht allzu sehr behagt. Albas Trainer setzt auf die Intelligenz und Eigenverantwortung seiner Spieler. Sie sollen auf dem Parkett selbst den richtigen Takt einer Partie erfühlen, eigene Lösungen finden und dabei mit ihren Aufgaben wachsen. Das ist die Philosophie des 73-Jährigen. Eine Auszeit bleibt da nur als Ultima Ratio.
„Alles, was der Ästhetik und dem Fluss des Spiels schadet, gefällt Aito nicht, und das vermittelt er nicht“, sagt Albas Geschäftsführer Marco Baldi. Gemeinsam mit Sportdirektor Himar Ojeda hat er den Spanier vor knapp drei Jahren nach Berlin geholt, Reneses war damals bereits 70 Jahre alt und hatte bis dahin noch nie außerhalb seines Heimatlandes gecoacht.
Dort hatte er sich längst den Ruf einer lebenden Legende erarbeitet, weil er zahlreiche Spieler entdeckt und sie zu den Besten ihres Fachs entwickelt hatte, weil er reihenweise Titel gewonnen hatte, national wie international, und weil er auch mit individuellen Auszeichnungen für seine Verdienste um den spanischen Basketball überhäuft wurde.
Nun hat es auch in Berlin keine drei Spielzeiten gedauert, um den Namen Reneses zu einem der ganz großen in der Alba-Geschichte werden zu lassen. Dazu bräuchte es nicht einmal den Meistertitel, den er an diesem Sonntag (15 Uhr/Magentasport und Sport1) erstmals mit seinem Team gewinnen kann und durch den 23-Punkte-Vorsprung aus dem 88:65-Hinspielsieg gegen Ludwigsburg auch ziemlich sicher gewinnen wird.
Es wäre selbstverständlich die Krönung seiner drei exzellenten Jahre in Berlin. Es wäre nach dem Pokalsieg im Februar auch ein weiterer netter Gruß an all die kritischen Stimmen, die glaubten, seine Lehre vom schönen, flüssigen und freien Basketball könne heute keine Titel mehr gewinnen. Und es wäre nach zwölf Jahren Wartezeit auf den neunten Meistertitel auch für den gesamten Klub ein Ereignis von immenser Bedeutung.
Doch vermutlich beschreibt kaum ein Umstand den Erfolg der Reneses’schen Philosophie besser, als dass das mittlerweile eigentlich fast egal wäre. Denn der Chefcoach hat bei Alba längst mehr hinterlassen als zahlreiche Siege und sieben Finalteilnahmen in acht Wettbewerben.
Alba Berlins K.o.-Spiele beim BBL-Finalturnier
- Viertelfinale, Hinspiel: Göttingen – Alba Berlin 68:93
- Viertelfinale, Rückspiel: Alba Berlin – Göttingen 88:85
- Halbfinale, Hinspiel: Oldenburg – Alba Berlin 63:92
- Halbfinale, Rückspiel: Alba Berlin – Oldenburg 81:59
- Finale, Hinspiel: Alba Berlin – Ludwigsburg 88:65
- Finale, Rückspiel: Ludwigsburg – Alba Berlin (Sonntag, 28. Juni, 15 Uhr)
Reneses hat einen ganzen Klub, der sich nach dem Verlust seiner Dominanz um die Jahrtausendwende auf der Suche nach einer frischen Identität befand, neu beseelt. Mit dem großen Geld in Bamberg oder München konnten die Berliner schon längst nicht mehr mithalten. Seine Chance sah der Klub deshalb in der Breite, in einem ausgedehnten Nachwuchsprogramm. Die Grundlagen dafür hatte Alba bereits geschaffen. Doch es fehlte noch an der Übersetzung dieses Konzepts in das Profiteam. Dann kam Reneses.
„Unser Programm war wie für ihn gemacht“, sagt Baldi. „Er will Spiele gewinnen, er ist ein großer Wettkämpfer. Aber er möchte gleichzeitig etwas bauen.“ Und das hat Reneses in seiner bisherigen Zeit bei Alba getan. Die Durchlässigkeit zwischen Nachwuchs und Profis ist bei den Berlinern so groß wie an kaum einem anderen Standort in der Bundesliga – und das obwohl Alba auf höchstem europäischen Niveau unterwegs ist und den Anspruch, um Titel zu spielen, nicht aufgegeben hat. Aber Reneses scheut nicht davor zurück, jungen Spielern Vertrauen zu schenken und ihnen die Möglichkeit zu geben, auf dem Feld zu wachsen, sie eben wie auch seine erfahreneren Profis: einfach Basketball spielen zu lassen.
Das Programm der Berliner – so hat es Manager Baldi schon oft gesagt – hat er damit erst mit Leben gefüllt. Beim Finalturnier zahlt sich das jetzt aus. Während andere Klubs auf einmal notgedrungen ihre Nachwuchsakteure ins kalte Wasser werfen mussten, weil ihre Kader in der Coronavirus-Pause zusammengeschrumpft waren, ging bei Alba alles seinen natürlichen Gang. Die jungen Spieler brachten keinen Bruch in das Spiel der Berliner und sorgten zugleich für die Breite und Frische im Kader, durch die Alba nun einfach über die geschlauchten Gegner hinwegfegt.
Den Lohn dafür dürfte es am Sonntag geben. Aito Garcia Reneses bleibt jedoch weiterhin ganz im Hier und Jetzt, so wie er es immer tut. „In der Halbzeit zu gewinnen, bedeutet nichts“, sagt er. „Du musst am Ende gewinnen.“ Albas Cheftrainer schaut immer nur von Angriffssequenz zu Verteidigungssequenz zu Angriffssequenz, alles andere scheint ihn nicht zu interessieren.
Deshalb ist es auch zwecklos zu erfragen, ob er den Berlinern noch eine weitere Saison erhalten bleibt oder sich in das verdiente Rentnerdasein nach Barcelona verabschiedet. Das wird Reneses wie schon vergangenes Jahr in Ruhe in den Tagen nach dem Finale entscheiden. Ob er am Sonntag mit Alba einen weiteren Titel gewinnt, dürfte ihn dabei kaum interessieren. Er will einfach nur Basketball spielen lassen.
Leonard Brandbeck