Beispiellose Nachwuchsarbeit: Wie Alba zum größten Basketballklub Deutschlands wurde
Berlins Basketballer können heute Pokalsieger werden. Und morgen? Alba beginnt schon in den Kitas mit der Nachwuchsarbeit. Das ist teuer, aber könnte sich lohnen.
Wäre es Marco Baldi immer nur darum gegangen, Talente für den Profibasketball heranzuzüchten, wäre seine Arbeit schon im Jahr 2002 erfüllt gewesen. Deutschland spielte bei der Weltmeisterschaft in Indianapolis. Es war ein überragendes Turnier für die junge Mannschaft. NBA-Profi Dirk Nowitzki führte das deutsche Team ins Halbfinale, in dem es knapp den starken Argentiniern unterlag. „Es war ein tolles Turnier für uns Berliner“, sagt Baldi. „Denn neben Nowitzki und Pascal Roller kamen alle anderen von Alba Berlin beziehungsweise dem TuS Lichterfelde, der bis heute mit Alba kooperiert.“
Dieses Turnier in Indianapolis war daher auch Ausdruck des Basketballbooms, der in Berlin in den Neunzigerjahren herrschte. Die NBA wurde immer mehr auch in Deutschland verfolgt. In Berlin spiegelte sich die Begeisterung für den Sport in der Spitze bei Alba wider. Die Berliner hatten gerade Bayer Leverkusen als besten deutschen Basketballklub abgelöst. Basketball war das neue Ding in Deutschland. In jedem Fall ein Sport mit viel Potenzial. Aber es war auch immer noch eine Sportart, die gerade in der Breite unendlich weit weg war vom Fußball.
Daher war es auch im Interesse von Alba Berlin und Manager Marco Baldi, das Fundament der Sportart zu stärken. „Im Jahr 2006“, erzählt Baldi, „fand ein Paradigmenwechsel in unserer Basketball-Philosophie statt: Wir wollten unserem Klub neben dem klassischen Spitzensport auch eine soziale Ausrichtung verpassen. Wir wollten massiv in die Breite gehen.“
Alba betreut regelmäßig etwa 8000 Kinder
Und das tat Alba Berlin dann auch. Der mit mehr als 2000 Mitgliedern mittlerweile größte Basketball-Klub Deutschlands kooperiert seither mit Kitas, Grund- und Oberschulen und bietet heute fast 80 AGs an. Allein 70 Trainer sind in diesem Bereich bei Alba Berlin fest angestellt. Insgesamt betreut der Verein damit regelmäßig etwa 8000 Kinder. Der Klub setzt sich außerdem für höhenverstellbare Körbe ein, um auch den Kleinsten schon Spaß am Basketball zu ermöglichen, organisiert einen Spielbetrieb für deutlich mehr als 100 Schulen, unterhält zig Jugend- und Breitensportmannschaften sowie eine Rollstuhlbasketballabteilung.
„Wir gehen diesen Weg sehr konsequent“, sagt Baldi. „Das bringt Herausforderungen mit sich, aber trotzdem erfüllt es uns.“ Was der 56-Jährige mit Herausforderungen meint, sind natürlich die hohen Kosten dieser sozialen Komponente. An die drei Millionen Euro gibt Alba für den Bereich aus. Im deutschen Basketball ist das eine verdammt hohe Summe. Mit drei Millionen Euro mehr könnte der Klub seinen Kader signifikant verbessern. Ziemlich sicher hat diese breite Ausrichtung den Verein in den vergangenen Jahren ein paar Titel gekostet. „Man hat uns dafür auch kritisiert. Aber das muss man dann aushalten können“, sagt Baldi. Und wenn der Mann behauptet, „dass dieses Modell in dem Maßstab im Basketball-Spitzensport beispiellos ist“, dann hat er recht.
Zumal der Profibasketball ein einziges Haifischbecken ist, vielleicht mehr noch als der Fußball. Das liegt auch an der übermächtigen nordamerikanischen Profiliga NBA. Sie ist der mächtige Spieler in diesem milliardenschweren Geschäftsbetrieb. „Die NBA sammelt die besten Spieler weltweit ein und muss nicht einmal eine Ausbildungsentschädigung zahlen“, schimpft Baldi. Das heißt: Die vielen Millionen, die Alba in den leistungssportlichen Zweig der Jugendausbildung investiert, lassen sich unter den aktuellen Spielregeln nur schwer amortisieren.
Viele Eigengewächse bei den Profis
Das große Ziel eines jeden Basketballprofis ist die NBA. Und wenn einer wie Moritz Wagner die Chance bekommt, dort an der Seite von Superstar LeBron James zu spielen, dann nutzt er sie auch – und sein Ausbildungsverein Alba geht leer aus. „Hier ist der Basketball-Weltverband Fiba gefordert. Aber der will sich bislang nicht mit der NBA anlegen“, sagt Baldi. Dabei, so der Manager, säge sich die NBA den eigenen Ast ab. „Schließlich gibt es mit diesem System kaum Anreize, eigene Spieler auszubilden.“
Alba tut es trotzdem und hat selten so sehr davon profitiert wie in den vergangenen Monaten, als die Spieler aus dem eigenen Nachwuchs viel Einsatzzeiten bei den Profis bekommen haben. Die Liste der jungen Debütanten ist lang: Franz Wagner löste in der vergangenen Saison im Alter von 16 Jahren seinen Bruder Moritz als jüngsten Alba-Spieler in der Bundesliga ab. Jonas Mattisseck, 19, wurde vor zehn Tagen zum ersten Mal in die Nationalmannschaft berufen. Auch Bennet Hundt, 20, und Hendrik Drescher, 18, kamen unter Albas spanischem Trainer Aito Garcia Reneses schon bei den Profis zum Einsatz. Tim Schneider, 21, gehört seit anderthalb Jahren fest zum Team, dazu kommen die ebenfalls bei Alba ausgebildeten, aber bereits länger etablierten Nationalspieler Niels Giffey und Joshiko Saibou. Wenn Alba an diesem Sonntag in Bamberg im Finale um den deutschen Basketball-Pokal antritt, werden mindestens vier, vielleicht sogar fünf Spieler aus dem eigenen Nachwuchs im Kader stehen. Das ist im deutschen Basketball wohl ebenfalls beispiellos.
„Es ist toll, wenn es klappt“, sagt Baldi. „Dann sehen die jungen Spieler unseren Leuchtturm, die Profis, und wissen, dass sie es auch schaffen können.“ Das wohl hellste Leuchten geht momentan von Franz Wagner aus, auch wenn der 17-Jährige noch gar keinen Profivertrag hat und mit einem Wechsel an ein US-College liebäugelt. 2008 kam er im Alter von sieben Jahren zu Alba und durchlief wie sein älterer Bruder zuvor alle Nachwuchsmannschaften. „In der vergangenen Saison habe ich meist noch Jugendbasketball gespielt und bin vormittags zur Schule gegangen“, erzählt Wagner, der im Sommer sein Abitur sehr erfolgreich abgeschlossen hat. „Da habe ich gar nicht daran gedacht, dass ich jetzt schon regelmäßig in der Bundesliga spielen würde.“
„Aito ist der perfekte Trainer für Albas Stil“
Der mehr als zwei Meter große Schlaks mit den jungenhaften Gesichtszügen gilt schon lange als riesiges Talent und profitiert bei Alba von den Strukturen sowie der Philosophie, die es erlauben, dieses Potenzial optimal auszuschöpfen. „Was Albas Jugendarbeit ausmacht, ist, dass es nicht die Hauptsache ist, ob du gewinnst oder verlierst. Klar ist es auch ein Ziel, Meisterschaften zu gewinnen, aber das ist nicht das Wichtigste. Vor allem geht es darum, die Spieler weiterzuentwickeln“, sagt Wagner. Das ist nicht in allen Vereinen so und geht oft zulasten der basketballerischen Ausbildung. Denn wenn ein Trainer den größten seiner sich noch im Wachstum befindlichen Spieler einfach unter den Korb stellt, gewinnt man damit vielleicht Spiele oder sogar Meisterschaften. Sobald der physische Vorteil irgendwann weg ist, fehlen ohne gut ausgeprägte technische Grundfertigkeiten aber die Mittel, um auf höchsten Niveau Basketball zu spielen.
Bei Alba steht daher bis zu einem gewissen Alter die ganzheitliche Ausbildung im Mittelpunkt. Die Kinder und Jugendlichen sollen ihren Spieltrieb ausleben, Spaß haben und lernen, auf dem Feld eigene Entscheidungen zu treffen. „Du musst nicht schon mit zehn Jahren ein System perfekt spielen können“, sagt Wagner. „Du musst wissen, wie du dich bewegst, und Spielverständnis entwickeln.“ Bei den Profis sind Systeme, einstudierte Laufwege und Spielzüge natürlich unvermeidlich, Reneses hat dabei jedoch seine ganz eigene Arbeitsweise. Der Basketball-Lehrer, der schon NBA-Stars wie Pau Gasol, Ricky Rubio oder Kristaps Porzingis geformt hat, gibt der Mannschaft einen taktischen Rahmen vor, lässt sie innerhalb dessen aber eigene Entscheidungen treffen, und greift im Spiel von der Seitenlinie nur sehr selten korrigierend ein. „Aito ist der perfekte Trainer für Albas Stil“, sagt Wagner.
2018 gewann Alba in drei Altersklassen die deutsche Meisterschaft
Natürlich gibt es auch kritische Stimmen, die sagen, dass es mit der neuen Herrlichkeit bei Alba schnell wieder vorbei sein könnte, wenn der genialische Profi- und Ausbildungstrainer Reneses den Verein irgendwann verlässt. Baldi aber sagt, dass die Ausrichtung und Philosophie des Klubs wegweisend seien und nicht Einzelpersonen. „Auch wenn Aito ein fantastischer Trainer ist und uns mit seiner Ausstrahlung und seinem Renommee sehr hilft.“
Doch selbst wenn es in der Post-Aito-Ära bei den Profis sportlich nicht mehr ganz so gut laufen sollte, will Baldi Geduld haben. Denn die Erfolge des damaligen Paradigmenwechsels schlagen sich mittlerweile auch in den Ergebnissen nieder. 2018 gewannen die Berliner als erster Klub überhaupt die deutschen Meisterschaften in den drei wichtigsten Nachwuchsaltersklassen. Außerdem haben Baldi und Alba immer noch die vielen Kids, die dank des Engagements des Klubs Basketball spielen. „Die Sinnhaftigkeit unserer Arbeit ist in jedem Fall gegeben“, sagt Baldi. Und auch das ist – leider muss man sagen – im Spitzensport ziemlich beispiellos.