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Usain Bolt zerrte sich im letzten Rennen den Oberschenkel. Die Zuschauer jubelten trotzdem, weil die britische Staffel siegte.
© John Sibley/Reuters

Bilanz der Leichtathletik-WM: Von Helden, Anti-Helden und Irrläuferinnen

Die WM verlief nicht nach Plan. Usain Bolt strauchelte, deutsche Hoffnungen zerplatzten und selbst die Stadionleinwand war im Weg. Eine Bilanz.

Die Wettkämpfe in London sind vorbei. Was davon in Erinnerung bleiben wird, sind weniger erstaunliche Zeiten oder Weiten, sondern vielmehr all das Unglück, das Athleten – selbst oder nicht selbst verschuldet – entgegenschlagen kann. Eine Auswahl.

Usain Bolt in neuer Rolle: der Anti-Held

Forever faster – für immer schneller. Das war das Motto, das Usain Bolt beziehungsweise das vielmehr die Marketing-Abteilung des seit zehn Jahren dominierenden Sprinters vor dieser WM ausgegeben hatte. Am Samstagabend gegen elf Uhr deutscher Zeit aber saß der 30-Jährige mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Tartanbahn des Olympiastadions. Neben ihm hatte eine Helferin schon den Rollstuhl zum Abtransport positioniert.

Bolt schaute auf die jubelnden Briten wenige Meter entfernt von ihm, dann bedeutete er der Helferin, dass er keinen Rollstuhl benötige. Dieses Bild wollte der Rekordhalter über 100 und 200 Meter bei seinem Abschied von der Leichtathletik nicht in die Welt senden. Bolt hatte kurz zuvor als Schlussläufer der 4x100-Meter-Staffel der Jamaikaner einen Oberschenkelkrampf erlitten und konnte das Rennen nicht mehr zu Ende bringen.

Es heißt, das Leben sei kein Wunschkonzert. Das genaue Gegenteil sollte es dann auch nicht sein. Für Bolt hatten die Wettbewerbe in London schon desaströs begonnen. In seinem letzten Einzelfinale am vergangenen Samstag wurde er Dritter. An sich schon schlimm genug. Dass auch noch sein ewiger Rivale – der mehrfach überführte Dopingsünder Justin Gatlin – auf seine alten Tage als Erster durchs Ziel rauschte, machte die Niederlage für Bolt nicht einfacher. Er war als Held nach London gekommen und reist nun als Anti-Held wieder ab.

Leichtathletikverbandspräsident Sebastian Coe aber bemängelte schon an Tag zwei der WM, als Gatlin die 100 Meter gewann, das „Drehbuch der Veranstaltung“. Das sei so doch nicht vorgesehen gewesen. Zu diesem Zeitpunkt aber konnte der Engländer nicht wissen, was noch alles schieflaufen sollte.

Makwala und der Magen

Wenn viele Menschen aus aller Herren Länder zusammenkommen, erklärte WM-Organisationschef Niels de Vos, könne es schon vorkommen, dass ein Virus herumgehe. Das stimmt wohl, aber selten hat ein Magen-Darm-Virus bei einer sportlichen Großveranstaltung derart um sich gegriffen wie bei der WM in London.

Betroffen waren viele Deutsche, aber auch Sportler anderer Nationen wie der Sprinter Isaac Makwala aus Botswana. Der Medaillenkandidat konnte über 400 Meter nicht antreten und wurde von den Veranstaltern gegen seinen Willen dazu gedrängt, auch auf die 200 Meter zu verzichten. Es gab ein Einlenken und schließlich qualifizierte er sich in einem Vorlauf, in dem er allein antrat, für das Halbfinale. Das Publikum hatte sich schon auf Makwala als Liebling dieser Wettkämpfe geeinigt, als nach und nach herauskam, wie der Afrikaner Unwahrheiten über seinen Rivalen Wayde van Niekerk verbreitet hatte. Die Veranstalter, so Makwala, hätten ihn sperren wollen, um van Niekerk siegen zu sehen. Die Figur des Publikumslieblings war Makwala schnell wieder los.

Gesa Krause und ihr größtes Hindernis

Die sympathische 3000-Meter-Hindernisläuferin Gesa Krause käme dafür unstrittig in Frage. In ihrem Drehbuch war die Rolle des Publikumslieblings aber nicht vorgesehen. Krauses Ziel war eine Medaille. Am Ende stand sie aber ohne Medaille da, dafür mit einem blauen Knie und mit den Tränen kämpfend vor den TV-Kameras. Krause scheiterte nicht an den Hürden, sondern an Beatrice Chepkoech. Die Kenianern war zuerst am Wassergraben vorbeigerannt, kurz darauf stolperte sie der Deutschen vor die Füße und brachte sie zu Fall. Ein Jahr Training, ein Jahr harte Arbeit. Alles umsonst.

Sechs im Sinn, 5,50 nicht geschafft

Wo wir bei deutschen Athleten und umsonst verrichteter Arbeit sind, darf Raphael Holzdeppe nicht fehlen. Der 27-Jährige ist immerhin Weltmeister im Stabhochsprung, auch wenn das schon ein paar Jahre her ist. Holzdeppe, das muss man ihm lassen, hat trotz schwieriger sportlicher Jahre immer in sein Drehbuch geschrieben, dass er der Beste sein will. Ein guter Wettkampf reiche nicht, sagte er vor der WM, eine Medaille solle es schon sein und möglichst auch ein Sprung über sechs Meter. Der ein oder andere mag sich schon gewundert haben, als sich Holzdeppe in der Qualifikation bei 5,70 Metern schwertat. Dann kam das Finale, die Anfangshöhe von 5,50 Metern. Holzdeppe lief drei Mal an und riss drei Mal. Aus. Vorbei. Dann halt nächstes Mal sechs Meter.

Video gucken statt Gold gewinnen

Von Shaunae Miller-Uibo aus den Bahamas wusste man schon vor der WM, dass sie einen Hang zum Drama hat. Bei den Olympischen Spielen in Rio holte sie sich die Goldmedaille über 400 Meter mit einem heldenhaften Hechtsprung. Die Erwartungen an sie waren daher groß. Aber ihr Finish in London geht als einer der größten Fauxpas in die Leichtathletik-Geschichte ein. In Führung liegend verlor Miller-Uibo kurz vor dem Ziel die Balance, stürzte fast und wurde Fünfte.

Die Beobachter waren sich sicher: Eine Oberschenkelverletzung müsse der Grund für den Kollaps gewesen sein. Später aber erzählte sie, was sich wirklich zugetragen hatte: Sie habe auf den letzten Metern nicht mehr auf die Bahn geschaut, sondern sich selbst beim Laufen auf der großen Stadionleinwand zugesehen. Daraufhin habe sie die Kontrolle verloren.

Martin Einsiedler

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