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Hoch und weit. Mit 8,24 Metern wurde Markus Rehm in Ulm Deutscher Meister.
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DLV-Sportdirektor über Markus Rehm: "Vergleichbarkeit steht über allem"

DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen spricht im Tagesspiegel-Interview über den Sieg des Prothesenträgers Markus Rehm im Weitsprung und die Konsequenzen für den Sport.

Herr Kurschilgen, mit dem deutschen Meistertitel bei den Nichtbehinderten hat der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm Sportgeschichte geschrieben. Haben Sie sich insgeheim gewünscht, dass Rehm in Ulm zwar mitspringt, aber nicht ganz vorne landet, um den Fall nicht noch komplizierter zu machen?

Nein. Markus Rehm ist zu den deutschen Meisterschaften zugelassen worden, weil er die Qualifikationsnorm erfüllt hat. Die Wettkampfregel 144 besagt, dass ein Sportler nur dann vom Wettkampf ausgeschlossen werden kann, wenn er einen unerlaubten Wettbewerbsvorteil erlangt, zum Beispiel durch eine Prothese. Das haben die Schiedsrichter in Ulm nicht eindeutig bewerten können, deshalb durfte er unter Vorbehalt starten. Ich habe ihm daher genauso die Daumen gedrückt wie allen anderen Sportlern auch.

Mit seinem Sprung über 8,24 Meter hat Rehm die EM-Norm erfüllt. Aus einer nationalen Debatte um den gemeinsamen Start behinderter und nichtbehinderter Sportler ist nun eine internationale geworden. Gibt es schon Signale, ob der europäische Leichtathletikverband einem Start von Rehm bei den Europameisterschaften in Zürich zustimmt?

Die europäische Dachorganisation ist aus meiner Sicht erst dann gefordert, wenn die Nominierung und Meldung erfolgt ist. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht der Fall. Die Nominierungshoheit liegt beim Deutschen Leichtathletik-Verband. Im Laufe des Montages werden wir im Bundesausschuss Leistungssport über die Nominierungen diskutieren, auch über die von Markus Rehm. Am Mittwochmittag werden wir das Team für die Europameisterschaften bekannt geben.

Der DLV hatte eine biomechanische Untersuchung der Sprünge von Markus Rehm angeordnet, um zu klären, ob seine Karbonprothese als unerlaubtes Hilfsmittel einzuordnen ist. Was genau wurde dort untersucht?

Die Auswertung erfolgte durch Leistungsdiagnostiker und Biomechaniker vom Olympiastützpunkt in Frankfurt am Main, die im Jahresverlauf regelmäßig die Horizontalsprünge begleiten. Es ist eine komplexe Diagnostik, bei der es um mehr geht als bloß um die Ermittlung von Anlauf- und Abfluggeschwindigkeit. Die Wissenschaftler vergleichen Markus Rehms Werte aus Ulm mit den Ergebnissen anderer Weltklassespringer wie Christian Reif oder Sebastian Bayer, aber auch mit anderen Sprüngen von ihm selbst. Wir werden uns die Ergebnisse der Untersuchung genau anschauen. Sie sollten bei der Nominierungsentscheidung berücksichtigt werden.

Gibt es bereits Hinweise, wie das Ergebnis der Untersuchung ausfallen wird?

Zum jetzigen Zeitpunkt will ich der Untersuchung nicht vorgreifen, das wäre voreilig. Wir wollen sehr sorgfältig und sehr solide auswerten.

Haben Sie Angst vor der Nominierungsentscheidung? Es wird Kritik geben, ganz egal, wie Sie sich entscheiden.

Wir werden sorgsam abwägen, auch im Gespräch mit Markus Rehm selbst. Trotzdem ist schon jetzt erkennbar, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt.

"Man sollte Markus Rehm nicht bedauern"

Die einen sprechen von Technodoping, die anderen feiern Rehm als Vorreiter der Inklusion.

Die Thematik polarisiert. Das werden wir womöglich auch mit den Erkenntnissen der Biomechaniker nicht ändern.

Weitsprung-Bundestrainer Uwe Florczak sagte nach dem Wettkampf, der Verband habe zu lange geschlafen. Warum wurden die biomechanischen Messungen nicht schon vorher durchgeführt, sondern erst bei den deutschen Meisterschaften?

Es gab bereits im Vorfeld Überlegungen und Ansätze, seitens des DLV zur Klärung beizutragen. Unter anderem war ein Gutachten bei Professor Gert-Peter Brüggemann von der Deutschen Sporthochschule in Köln vorgesehen. Ich sehe keine Versäumnisse seitens des Verbandes. Die deutschen Meisterschaften sind ein angemessener Wettkampf unter gleichen Bedingungen und Herausforderungen für solche Untersuchungen.

Gerhard Janetzky, Chef des Berliner Leichtathletik-Verbandes und DLV-Präsidiumsbeauftragter für Inklusion, hat gesagt, Fairplay gehe vor Inklusion.

Das sehe ich genauso. Das muss der Ansatz eines Spitzensportverbandes sein, national wie international. Das Gut der Vergleichbarkeit steht über allem.

Thomas Kurschilgen ist seit 2009 Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Der frühere Stabhochspringer war zuvor Marketingleiter einer Bank.
Thomas Kurschilgen ist seit 2009 Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Der frühere Stabhochspringer war zuvor Marketingleiter einer Bank.
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Wenn Sie sich einmal in Markus Rehm hineinversetzen: Tut er Ihnen eigentlich leid, weil er sich für seine Leistung jedes Mal rechtfertigen muss?

Bei aller Diskussion um seine Prothese verkennen viele, dass er vor allem auch ein außergewöhnlicher Sportler ist, der mit sehr viel Freude und Enthusiasmus bei der Sache ist. Aber auch er wird sich dem Dialog stellen müssen, genau wie wir. Dafür sollte man ihn nicht bedauern.

Markus Rehm hat sarkastisch angemerkt, wenn die Leute glaubten, dass er allein wegen der Prothese so weit springt, dann sollten sie sich doch selbst das Bein absägen und eine Sprunghilfe anmontieren. Könnte es tatsächlich sein, dass in Zukunft ganz gezielt Unterschenkelamputierte rekrutiert werden, wenn man mit Prothesen weiter springen kann?

Mit Verlaub: Das halte ich für unrealistisch und ethisch für nicht vorstellbar.

Konstantin Jochens

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