Weitsprung mit Beinprothese: Markus Rehm wird Deutscher Meister und schafft die EM-Norm
Markus Rehm ist als behinderter Sportler deutscher Meister der Nichtbehinderten geworden. Der Weitspringer schaffte dabei auch die Qualifikationsnorm für die Europameisterschaft im August.
Markus Rehm stieß einen lauten Schrei aus, dann fiel der Weitspringer seiner Trainerin Steffi Nerius in die Arme. Die war mindestens genauso baff wie er selbst über die Zahl, die soeben auf der Anzeigetafel erschienen war: 8,24 Meter. Gleich um 29 Zentimeter hatte Rehm seine Bestleistung gesteigert, die Norm für die Europameisterschaften in Zürich übertraf er um 19 Zentimeter. Ein Quantensprung, der die Verantwortlichen des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) vor neue Probleme stellt. Denn Markus Rehm ist unterschenkelamputiert, er springt mit einer federartigen Prothese am rechten Bein. Schon seinen Start bei den deutschen Meisterschaften in Ulm hatte der DLV nur unter Vorbehalt genehmigt. Jetzt steht der Verband vor der Frage, ob er Rehm für die EM in Zürich nominieren soll – und ob der europäische Dachverband die Nominierung überhaupt akzeptiert.
Eine Steigerung seiner Bestleistung – zugleich paralympischer Weltrekord – von zehn Zentimetern hatte der Leverkusener im Vorfeld für realistisch gehalten. Auch das hätte in Ulm schon für die EM-Norm gereicht, nicht aber für die Goldmedaille. „Ich bin selber überrascht, wie weit ich heute gesprungen bin“, sagte Rehm. Seinen Satz auf 8,24 Meter bezeichnete er als perfekt, als einen diesen Sprünge, die einem in der Karriere vielleicht nur ein einziges Mal gelingen. An dieser Weite, erzielt im vierten Durchgang, biss sich die Konkurrenz die Zähne aus. Der Zweitplatzierte Christian Reif, Europameister von 2010, sprang in allen sechs Versuchen über die Acht-Meter-Marke, doch selbst das reichte an diesem Tag nicht, um Markus Rehm zu bezwingen.
Prothese als unfairer Voirteil?
Im Vorfeld war viel darüber gerätselt worden, wie der 25-Jährige von den 10 000 Zuschauern und den anderen Springern aufgenommen werden würden. Schließlich gibt es nicht wenige, die seine Prothese als Techno-Doping bezeichnen, als unfairen Vorteil gegenüber Springern mit zwei Beinen aus Fleisch und Blut. Das Ulmer Publikum aber begrüßte ihn mit einem herzlichen Applaus, der fast noch stärker ausfiel als bei Christian Reif und Sebastian Bayer, beide immerhin ehemalige Europameister. Die Fans hatten ein gutes Gespür für die Leistung Rehms, der als erster behinderter Sportler überhaupt bei den Titelkämpfen der Nichtbehinderten an den Start ging und damit Sportgeschichte schrieb.
Beim Deutschen Leichtathletik-Verband tut man sich da schwerer, auch wenn die Entscheidung von 2012, die Teilnahme von Sportlern mit Prothesen grundsätzlich zu untersagen, im vergangenen Jahr revidiert wurde. „Als Verband fühlen wir uns der Inklusion verpflichtet, müssen aber auch die Interessen der Nichtbehinderten vertreten“, hatte DLV-Präsident Clemens Prokop bereits im Januar verlauten lassen, als Rehm erstmals gegen nichtbehinderte Athleten gewonnen hatte. Die Grundfrage laute: Sind beide Leistungen miteinander vergleichbar? Ein Gutachten sollte das klären. In Ulm nahmen Biomechaniker die Anlaufgeschwindigkeit Rehms, seinen Absprungdruck und Absprungwinkel genau unter die Lupe – mit unbekanntem Ausgang.
Anlaufgeschwindigkeit zu niedrig?
Aber warum erst bei den Meisterschaften? Warum nicht schon im Vorfeld? „Da hat der DLV ein bisschen geschlafen“, räumte selbst Weitsprung-Bundestrainer Uwe Florczak ein. „Wir hätten das vorher überprüfen sollen, ob die Prothese ein Hilfsmittel ist.“ Cheftrainer Cheick-Idriss Gonschinska widersprach, das sei nicht die richtige Formulierung. Vielmehr zeige sich am Umfang der notwendigen Analysen wieder einmal die Komplexität die Leichtathletik. Rückendeckung bekam er dabei auch von Markus Rehm selbst: Solche Messungen seien nicht einfach, das brauche Vorbereitung.
Einer der entscheidenden Parameter ist die Anlaufgeschwindigkeit. Nach Ansicht vieler Experten muss ein Weitspringer mindestens eine 100-Meter-Zeit von 10,60 Meter vorweisen können, um acht Meter weit zu springen. Rehms Sprintbestleistung steht bei 11,46 Sekunden, seine Anlaufgeschwindigkeit ist nicht viel höher als die der besten Weitspringerinnen, weshalb Kritiker seine weiten Sätze ausschließlich mit der Federung der Karbonprothese begründen. Uwe Florczak sagte, er arbeite jetzt seit 28 Jahren als Trainer – aber er habe noch nicht erlebt, dass jemand mit einer solch geringen Anlaufgeschwindigkeit eine solche Weite erzielt. „Aber all das ist Halbwissen“, beeilte er sich hinzuzufügen. Er habe größten Respekt vor Rehms Leistung und davor, wie der Sportler mit seiner Behinderung umgehe.
Vorerst bleiben die Zweifel. Markus Rehm wartet selbst wohl am sehnsüchtigsten auf das endgültige Gutachten, um sie aus der Welt zu schaffen. „Kein Athlet kann sich darüber freuen, dass seine Leistung womöglich unter unfairen Bedingungen erzielt wurde“, sagte er.
Konstantin Jochens