Zur Deutschen Meisterschaft mit Prothese: Markus Rehm schreibt Sportgeschichte
Markus Rehm wird Sportgeschichte schreiben. Der Weitspringer tritt als erster Behinderter bei der Deutschen Meisterschaft an. Ihm geht es um den Wettkampf. Aber es geht auch um die Zukunft der Leichtathletik. Und die Frage, wo Inklusion aufhört und Fairness anfängt.
Markus Rehm lehnt seinen Oberkörper zurück und bläst die Backen auf. Dann läuft er los. Bei den ersten drei Schritten schwingt er sein rechtes Bein – das mit der federartigen Prothese – noch leicht seitwärts nach vorne. Doch je schneller er wird, desto runder wird sein Lauf, desto fester und bestimmter werden seine Schritte. Fuß, Feder, Fuß, Feder, Fuß, Feder, immer schneller wird der Rhythmus, immer fließender die Bewegung. Dann hat er seine Höchstgeschwindigkeit erreicht, mit der Feder trifft er den Absprungbalken, katapultiert sich in die Höhe, wirft Arme und Beine nach vorne – und fliegt. Bei der Landung in der Sprunggrube spritzt der Sand in alle Richtungen.
Rehms Trainerin Steffi Nerius misst nach. 7,40 Meter. Markus Rehm schüttelt den Kopf. „Das war ein Witz“, sagt er und lässt sich auf den Boden sacken. „Wieder nicht richtig getroffen.“
In diesem Augenblick ist der 25-Jährige nur ein Sportler, der wenige Tage vor dem wichtigsten Wettkampf seines Lebens verbissen an seiner Form arbeitet. Der trainiert, mit Verletzungen kämpft und jetzt schwitzend und schnaufend in Leverkusen in der sengenden Sonne liegt. Doch für viele Menschen ist Markus Rehm mehr als ein Sportler. Er ist ein Vorbild, ein Politikum, ja sogar ein Feindbild. Der Grund: die Prothese, die er nun abnimmt und neben sich ins Gras legt, um seinen Beinstumpf abzutrocknen.
Einfach zu gut
Markus Rehm verfolgt der Vorwurf, dass er nur so weit springt, weil sein künstliches Bein dafür besser geeignet ist als eines aus Fleisch und Blut. Für jemanden, der als behindert gilt, ist Markus Rehm einfach zu gut.
An diesem Sonnabend wird Rehm Geschichte schreiben. Als erster behinderter Sportler wird der Leverkusener bei den deutschen Meisterschaften der Leichtathleten in Ulm antreten. Er wird die Startnummer 729 tragen und sich mit den besten Weitspringern des Landes messen. Im Februar hatte er die vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) geforderte Norm überboten, nur vier Deutsche sind in diesem Jahr weiter gesprungen als er. Ende Juni erhielt er offiziell die Starterlaubnis. „Es wird sicherlich keine einfache Situation“, sagt Rehm. Viele Athleten stünden ihm nicht gerade entspannt gegenüber, „Wenn ich 7,20 Meter springe, würden alle sagen: Schön, dass Markus dabei ist“, sagt er. „Aber sobald man ein paar Leute hinter sich lässt, heißt es: Moment mal, das kann nicht wahr sein.“
Im Breitensport soll Inklusion selbstverständlich sein, an der Spitze scheint sie unerwünscht. Denn auch für die anderen Weitspringer steht viel auf dem Spiel. Die Qualifikation für die EM, Medaillen, Platzierungen, Fördergelder, Sponsoren. Vielleicht wird es ein paar böse Blicke geben in Ulm. „Aber da kann ich allen nur sagen: Macht doch“, sagt Rehm und grinst. „Ich bin Sportler, ich lasse mich nicht unterbuttern. Da krieg ich nur noch mehr Bock, noch weiter zu springen.“
Unfall beim Wakeboarden
Mit dieser Einstellung hat es Markus Rehm weit gebracht. Als er 14 Jahre alt ist, wird er beim Wakeboarden von einem Motorboot überfahren und verliert dabei den rechten Unterschenkel. Seinen 15. Geburtstag verbringt er im Krankenhaus, hadert mit seinem Schicksal und fragt sich, welches Mädchen ihn so noch haben will. Er fiebert dem Tag entgegen, an dem er seine erste Prothese bekommen soll. Und weint Tränen der Enttäuschung, weil sein künstliches neues Bein ihm große Schmerzen verursacht und er trotzdem nicht richtig stehen kann.
Heute, knapp zehn Jahre später, sieht man Rehm sein Handicap kaum an. In Jeans und Turnschuhen wirkt sein Gang nur ein ganz wenig unrund. Aber eher auf eine lässige, schlendernde Art, die gut zu seinem jungenhaften Gesicht, den Bartstoppeln und der Bürstenfrisur passt. Er ist topfit, Sportler durch und durch, trainiert an sechs Tagen pro Woche, oft auch zweimal täglich.
Das Ding aus Kunststoff, Kohlefaser und Metall soll entscheidend sein?
Und dann soll eine Prothese, ein Ding aus Kunststoff, Kohlefaser und Metall, der entscheidende Grund für seine Leistungen sein? Das wichtigste Bauteil an Rehms Prothese ist eine geschwungene Carbonfeder, die ihm sein isländischer Sponsor zur Verfügung stellt. Da, wo an einem gesunden Fuß der Ballen liegt, kleben Spikes. Zwei Schrauben verbinden die Feder mit dem Kohlefaser-Schaft, aus dem unten ein kleines Ventil ragt. Rehm hat sein Bein jetzt abgetrocknet, zieht eine Socke aus elastischem Kunststoff über sein Knie, dann eine aus Stoff, dann die Prothese und darüber einen Schlauch aus eng anliegendem Silikon, der alles fixiert. Bei den ersten Schritten in Richtung seiner Startmarkierung entweicht aus dem Ventil Luft, pfft, pfft, die Prothese wird durch Unterdruck an sein Bein herangesaugt. Ohne dieses Mini-Vakuum könnte Rehm sie beim Sprint verlieren.
Als Rehm im Januar erstmals einen Wettkampf gegen Nichtbehinderte bestreitet und bei den Nordrheinmeisterschaften den Titel holt, kündigt der DLV eine detaillierte wissenschaftliche Überprüfung seiner Prothese an. Ähnlich wie bei dem südafrikanischen Läufer Oscar Pistorius, der 2012 in London als erster beidseitig beinamputierter Athlet bei Olympischen Spielen startete. Rehm hat kein Problem mit so einer Untersuchung. „Ich möchte nicht gewinnen, weil ich einen Vorteil habe, sondern weil ich der beste Athlet bin“, sagt er. Bis jetzt gibt es aber keinen Termin.
Er darf starten - unter Vorbehalt
Der DLV hat sich mit dem Deutschen Behindertensportverband (DBS) erst einmal darauf geeinigt, dass Rehm in Ulm starten darf, unter Vorbehalt. Beim DLV ist man sich nicht sicher, wie mit Rehm und möglichen Nachfolgern umzugehen ist. Gerhard Janetzky, der Inklusionsbeauftragte, sagte zum Fall Rehm kürzlich: „Fairplay geht vor Inklusion.“
Er arbeite sehr hart für seinen Erfolg, sagt Markus Rehm. „Selbst wenn mir die Prothese einen Vorteil verschaffen sollte, steckt da immer noch ein Mensch dahinter. Ein Athlet.“ Die Leute hätten das Bild vom Terminator im Kopf, schimpft er. Von einem Bein, das man sich umschnallt und neun Meter weit springt. Der aktuelle Weltrekord liegt bei 8,95 Meter. Aber so weit sei die Technik nicht. „Ich kann nur sagen: Im Baumarkt gibt es super Sägen. Wenn das so toll ist, dann holt euch doch eine Prothese“, sagt er grimmig. „Ich finde das frech gegenüber allen Leuten, die so ein Schicksal haben.“ Wenn es so einfach wäre, trotz eines fehlenden Unterschenkels fast acht Meter weit zu springen „würde es doch viel mehr Sportler geben, die das könnten“.
Die gibt es nicht, Rehm hält seit der paralympischen Leichtathletik-WM 2013 mit 7,95 Meter den Weltrekord der Paralympioniken, der Zweitplatzierte sprang einen Meter und 17 Zentimeter kürzer. Ein Jahr zuvor siegte er auch bei den Paralympics in London, sein Vorsprung betrug einen Meter und zwei Zentimeter. Wer so überlegen ist, wird im Sport immer verdächtigt.
Mit den Besten messen
In anderen Sportarten gilt der technische Fortschritt als selbstverständlicher Teil des Wettkampfs, die Materialschlacht als reizvolle Fortsetzung der athletischen Auseinandersetzung. Beim Rodeln entscheidet nicht zuletzt die Qualität des Schlitten darüber, wer gewinnt, Skifahrer fluchen bisweilen über das falsche Wachs, im Schwimmen wurden etliche Weltrekorde gebrochen, als High-Tech-Anzüge im Becken zugelassen wurden. Aber bei einem Weitspringer mit einem künstlichen Bein ist für viele eine Grenze überschritten. Dabei hat auch die Bundesregierung in einem Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention das Ziel erklärt, von Menschen mit Behinderungen würden „die gleiche Qualität und der gleiche Standard in den jeweiligen Lebensbereichen erwartet, der auch für Menschen ohne Behinderungen gilt“. Rehms Problem ist, dass er genau das schafft: Er erfüllt diese Standards.
Er will sich mit den Besten messen, der sportliche Ehrgeiz treibt ihn an. „Mir geht es um den Wettkampf – und nicht um irgendeine Medaille“, sagt er. Doch dieses Gefühl, das Maximum aus sich herausholen zu müssen, fehlt ihm bei paralympischen Wettkämpfen inzwischen.
Als Meister der Orthopädietechnik und Spezialist für Beinprothesen trifft Rehm jeden Tag Menschen, denen es geht wie ihm. Rehm kann sich in seine Kunden besser hineinversetzen als ein Techniker ohne Handicap, glaubt er. Er mag seinen Beruf, die größte Freude bereitet ihm, dass er undogmatisch nach Lösungen suchen kann: „Es gibt keine Regeln, es muss nur funktionieren.“ Als Jugendlicher war er ständig beim Orthopädietechniker, weil seine Prothese seinem Bewegungsdrang nicht standhielt. „Fahrradfahren, geht das noch? Ich habe nicht nachgefragt, sondern einfach probiert“, sagt er.
Er freut sich, dass er einen Präzedenzfall geschaffen hat
Am liebsten würde Rehm jeden Kunden so mobil wie möglich machen, jedem Amputierten eine High-Tech-Prothese verschaffen. Die modernsten Modelle kosten bis zu 45 000 Euro, haben Spezial-Einstellungen fürs Inlineskaten und sind per Bluetooth konfigurierbar, „aber wir können ja auch nicht alle Porsche fahren“. Auch Rehms Sprungprothese ist eine Art Porsche, vielleicht sogar ein Ferrari oder ein Raketenauto. Er hat sie selbst entworfen und gebaut. Sein Wissen teilt er jedoch gern, tauscht sich mit anderen Springern aus.
Vor knapp drei Wochen ist er umgezogen, von Bergisch-Gladbach nach Leverkusen, direkt neben die Fritz-Jacobi-Sportanlage, wo er auch heute trainiert. Beim Umzug zögerte er kurz, bevor er versuchte, eine schwere Vitrine rückwärts die Treppe hochzutragen. „Ich sehe so was immer als Herausforderung“, sagt er. „Kann ich das? Ja. Cool. kann ich. Ich denke nie: Das wird total schwierig. Sondern ich frage mich jedes Mal aufs Neue: Wie mache ich das jetzt am besten?“
Markus Rehm freut sich, dass er einen Präzedenzfall geschaffen hat. „Man muss sich mit dem Thema auseinandersetzen – auch weil nach mir noch mehr Leute kommen können.“ Es geht ihm um mehr in Ulm, um mehr als diese sechs Sprünge am Samstagnachmittag. „Ich mache es nicht nur für mich, ich kann den ganzen Sport voranbringen.“ Der DLV habe Angst vor der Zukunft, hat Rehm einmal gesagt.
Sein Ziel: eine persönliche Bestleistung
Mitten in der Vorbereitung, zehn Tage vor der Meisterschaft, hatte Rehm mit einer Schleimbeutelentzündung im Knie zu kämpfen. Wegen der Schwellung konnte er mehrere Tage keine Prothese tragen, nicht Auto fahren, musste an Krücken laufen. Plötzlich war Markus Rehm wieder behindert. „Ich bin irre geworden“, sagt er.
Jetzt kann er wieder trainieren, zum Sportplatz transportiert Rehm seine beiden Federprothesen – eine für den Sprint, eine für den Sprung – in einer Tasche für Tennisschläger, das hat er sich von einem holländischen Konkurrenten abgeschaut. Er fühlt sich gut, sein Ziel ist es, in Ulm eine persönliche Bestleistung aufzustellen. Bei 8,05 Meter liegt die Norm für die EM der Nichtbehinderten Mitte August in Zürich, Rehm nennt die Weite „anspruchsvoll, aber nicht utopisch“. 8,05 Meter würden aus einer nationalen Debatte ein internationales Problem machen – mit offenem Ausgang.
Spannung halten
In den letzten Tagen vor dem Wettkampf geht es nur noch darum, die Spannung zu halten und sich Selbstvertrauen zu holen. Aber die letzten Sprünge vor dem Ernstfall wollen Markus Rehm nicht so recht gelingen. „Der Anlauf stimmt, aber du triffst irgendwie nicht“, sagt seine Trainerin Steffi Nerius, die selbst einmal als Speerwerferin erfolgreiche Leichtathletin war.
Rehm stakst langsam zurück zu seiner Startmarkierung. Wenn er nicht sprintet, sieht es aus, als gehe er einbeinig auf einer Stelze, wacklig und verwundbar.
Rehm läuft an, es ist der achte oder neunte Versuch, ein guter Sprung war noch nicht dabei. Fuß, Feder, Fuß, Feder, immer schneller, er verpatzt wieder den Absprung und stolpert unkontrolliert durch die Sprunggrube. Am anderen Ende kracht er beinahe gegen einen Metallkasten. Nerius atmet tief ein und sagt betont ruhig: „Ich glaube, wir hören mal auf.“ Er geht langsam an der Grube entlang. Er atmet schwer, sinkt auf den Rasen. Wieder zieht er die Prothese aus, trocknet sein Bein ab, wischt Sandkörner von der Feder.
Dann blickt er auf. „So, einen machen wir noch.“
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