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Blindflug mit Bildschirm?
© AFP

Frankreich, die EM und die Gewalt: Überforderter Gastgeber

Frankreich gibt bei der EM ein schlechtes Bild ab. Grund für die Gewalt-Eskalation sind auch Mängel in der Sicherheitspolitik – Kritiker werfen den französischen Behörden Ignoranz vor.

Tränengaswolken, zerstörtes Mobiliar, Blutlachen, schwer verletzte Fans und fassungslose Beobachter. Die Ausschreitungen von Marseille haben die internationale Öffentlichkeit erschüttert. Jetzt, wo die Spuren der Schlägereien zwischen Russen und Engländern bei der Fußball-EM beseitigt sind, fragen sich Kenner der Szene, wie es überhaupt zu den brutalen Auseinandersetzungen kommen konnte. Im Zentrum der Kritik stehen die französischen Sicherheitsbehörden.

"Die Behörden sperren Fans kollektiv aus"

Bekanntestes Gesicht in diesem Zusammenhang ist der Chef der DNLH, Antoine Boutonnet. DNLH steht für „Direction Nationale de la Lutte contre le Hooliganisme“, zu deutsch etwa: „Nationale Direktion zur Bekämpfung des Hooliganismus“. Fannahe französische Medien kritisieren bereits seit Jahren das Verhalten von Boutonnet. Der schlanke Mann mit der imposanten Nase soll nicht nur den Verantwortlichen von Paris Saint-Germain sehr nahe stehen. Für Ali Farhat, Redakteur beim französischen Fanmagazin „So Foot“ steht Boutonnet auch stellvertretend für die seit Jahren falsche Sicherheitspolitik im Umgang mit gewaltbereiten Fans: „Die Maßnahmen der DNLH sind so simpel wie falsch: Bei Risikospielen werden Anhänger der Gästemannschaft regelmäßig an der Anreise zum Auswärtsspiel gehindert, so geschehen in dieser Saison beim Spiel zwischen Olympique Marseille und PSG. Statt sich ernsthaft mit einem wirksamen Umgang von Fan-Konflikten zu beschäftigen, sperren die Behörden die Fans kollektiv aus.“ Es sei daher kein Wunder, sagt Farhat, dass es zu den Ausschreitungen von Marseille gekommen sei: „Wie soll man auf so etwas bei einem Großturnier vorbereitet sein, wenn man im Punktspielalltag die Probleme wegsperrt und somit ignoriert?“

Fans, Ultras, Hooligans - alle in einem Topf

In die gleiche Kerbe schlägt der französische Fanforscher Sébastian Louis, der die Verantwortlichen am Montag in einem Interview mit „Le Monde“ ebenfalls scharf kritisierte: „Diese Situation ist auch das Ergebnis von mangelhafter Strategie der DNLH, die seit Jahren schon Fans, Ultras und Hooligans in einen Topf schmeißt und wie verrückt Stadionverbote verteilt hat, statt den Ursachen und der Prävention von Fangewalt auf den Grund zu gehen.“ Die Behörden hätten sich im Vorfeld vor allem auf die Terrorgefahr konzentriert, nicht aber auf die absehbare Gewalt durch anreisende Hooligan-Gruppen.

Die Ausschreitungen von Marseille mögen das Gastgeberland überrumpelt haben, überraschend waren sie nicht. 1998 war es während der WM in Marseille zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Engländern und Tunesiern gekommen, viele arabische Migranten aus der Stadt verbündeten sich mit den Tunesiern. Die Rückkehr nach Marseille war unter einigen radikalen englischen Fangruppen im Vorfeld als Rache für 1998 verklausuliert worden. Zudem haben Experten schon vor langer Zeit vor dem Auftritt von russischen Hooligans gewarnt, die sich in einem bizarren Streit um Vorherrschaft der gewaltbereitesten Fußball-Anhänger auch mit den Engländern messen wollten.

„Die Polizisten wussten gar nicht, was sie machen sollten"

Exakt das ist auch eingetreten – ohne dass die zuständigen Behörden entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen hätten. Fanforscher Louis sagt: „Die Polizisten vor Ort wussten gar nicht, was sie machen sollten. Da fehlte es einfach an einer kompetenten Strategie.“ Und auch der Journalist Farhat sagt: „In Frankreich haben die Polizisten keine Ahnung, wie sie mit so einer Eskalation umgehen sollen. Sie sind dafür nicht trainiert. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir sind auf dieses Turnier nicht vorbereitet gewesen.“ Als ein mögliches Vorbild nennt der in Bonn wohnhafte „So Foot“-Mann die deutschen Behörden: „In Deutschland weiß man wenigstens halbwegs, was Prävention von Fangewalt bedeutet – weil die zuständigen Sicherheitskräfte sich ja damit jedes Wochenende befassen müssen.“ Als Beispiel für eine erfolgreiche Politik nennt Farhat die Aktion der deutschen Grenzbehörden im Vorfeld des ersten deutschen Gruppenspiels, als ein Reisebus von gewaltbereiten Anhängern von Dynamo Dresden rechtzeitig abgefangen wurde.

Man habe alles getan, um die Konflikte zu verhindern

Die Verantwortlichen selbst weisen jede Schuld von sich. DNLH-Chef Antoine Boutonnet erklärte in „L’Équipe“, dass sich seine Behörde nichts vorzuwerfen habe und behauptete, Grund und Auslöser für die Krawalle von Marseille seien Auseinandersetzungen zwischen Fans von Olympique Marseille und PSG, sowie der massenhafte Alkoholkonsum gewesen. „Ich kann es nicht fassen“, twitterte daraufhin der bekannte französische Fananwalt Pierre Barthélémy. Zwar hatte es tatsächlich Zusammenstöße zwischen gewaltbereiten Fans beider Lager gegeben, mit der eigentlichen Gewalt hatte das allerdings nur am Rande zu tun. „Das zeigt ja, wie blind Boutonnet und seine Behörde sind“, sagt Farhat. Auch das französische Innenministerium scheint die eigentlichen Probleme zu ignorieren. Der offizielle Twitteraccount kommentierte: „Wenn es Fehlverhalten gab, dann ist dies im Fußball zu suchen.“ Marseilles Polizeipräfekt Laurent Nunez ging in einem Interview noch weiter und behauptete, man habe alles getan, um die Konflikte zu verhindern, sei aber machtlos gewesen.

Was bedeutet das für Paris' Olympia-Bewerbung?

Die nicht enden wollenden Streiks, die zum Teil mangelhafte Organisation und nun auch die Inkompetenz der Sicherheitsbehörden – Frankreich präsentiert sich in diesen Tagen als überforderter Gastgeber. Das Fehlverhalten bei der Europameisterschaft könnte sogar längerfristige Folgen haben. Paris ist offizieller Kandidat für die Vergabe der Olympischen Spiele 2024. Journalist Farhat ist sich sicher: „Wer so eine EM abliefert, der bekommt ganz sicher nicht die Spiele.“

Alex Raack

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