Fahrradreise: Über den Wolkenpass ins Mekong-Delta
Umwerfende Natur, opulente Mausoleen und Street Food in Saigon. Unser Autor war mit dem E-Bike in Vietnam unterwegs. Eine Reise hinein in die Komfortzone.
Ich wollte mich ja gar nicht in die Komfortzone hineinbegeben. Außerhalb fühlte ich mich immer ganz gut aufgehoben. E-Bikes hatte ich Endvierziger bislang eher als Rentnergefährt wahrgenommen – und damit als etwas, das noch weit von mir entfernt ist. Habe ich elektrische Unterstützung beim Radfahren etwa nötig?
Aber jetzt – ich bin ein neugieriger Mensch – sitze ich zum ersten Mal auf so einem Ding. Mitten in Zentralvietnam. An der Lenkstange hängen eine wasserdichte Tasche und ein eingeschweißtes Kärtchen, auf dem mein Name und meine Größe notiert sind. Die Sitzhöhe ist perfekt voreingestellt.
Zu den Mausoleen der Nguyen-Dynastie
Unsere kleine Reisegruppe besteht aus zehn Leuten, angeführt von Can Nguyen, unserem Guide aus Saigon, der im südhessischen Offenbach Lebensmitteltechnik studiert hat. Ein Mechaniker fährt ebenfalls auf dem Rad mit, dazu ein Begleitfahrzeug.
Wir werden in den nächsten Tagen zusammen mit dem E-Bike durch Zentral- und Südvietnam fahren. Unser erstes Tagesziel: Wir fahren im Kreis. Ausgangspunkt ist Hue.
Die Stadt hat fast eine halbe Million Einwohner, von 1802 bis 1945 war sie Kaisersitz der Nguyen-Dynastie (heute ist das übrigens der mit Abstand häufigste Nachname in Vietnam). Zwölf der letzten dreizehn Kaiser haben sich in der Umgebung zu Lebzeiten Mausoleen gebaut, zwei davon besichtigen wir.
Der erste Eindruck: Das ist Betrug!
Nun also los! Ich trete ein paar Mal in die Pedale, nehme viel zu leicht Fahrt auf. Es ist, als würde mich jemand anschieben, obwohl ich doch selbst trete. Mein erster Eindruck: Das ist Betrug! Allerdings ein ganz angenehmer.
Wir schnurren über die Landstraße, aus der Stadt hinaus. Jeder probiert ein wenig mit dem Fahrrad herum. Bisher habe ich erst den Eco-Modus genutzt, das Rad bietet mir aber noch zwei höhere Stufen an. Wenn man davon eine anwählt, fliegt es regelrecht.
Der zweite Eindruck: Es sind nicht mal Steigungen nötig, damit so ein E-Bike Spaß macht. Ist man mal etwas hinter die Gruppe zurückgefallen und will aufschließen, kann das Rad ganz schön aufdrehen. Es wäre verschenkt, diesen Fahrspaß allein den Rentnern zu überlassen.
Ohne Fahrrad wären wir hier kaum hergekommen
Der Himmel ist bedeckt, die Luft schwül, ein bisschen Unterstützung beim Treten kommt da ganz gelegen. Auf den Landstraßen ist wenig Verkehr. Wir biegen auf palmengesäumte Nebenstraßen ab, fahren durch Dörfer, vorbei an Pagoden.
Eine Frau und ein Mann sitzen an einem Tisch vor einem kleinen Lokal und sehen uns belustigt nach. Ein Mädchen, das uns von einer Terrasse in Rufweite aus sieht, führt einen lautstarken Tanz für uns auf. Ohne Fahrrad wären wir hier kaum hergekommen. Zu Fuß wäre die Rundtour zu weit. Und der Bus hätte durch einige Dörfchen gar nicht durchgepasst.
Wir erreichen die Grabstätte von Khai Dinh, dem zwölften Kaiser der Nguyen-Dynastie, 1925 mit 41 Jahren verstorben. Eine lange, breite Treppe führt zu dem terrassenförmig angelegten Bau. Porzellan-Mosaiken bedecken die Wände im Inneren, die Decke ist aufwendig bemalt.
Khai Ding, der Sonnenkönig von Vietnam
„Khai Dinh war der Ludwig XIV. von Vietnam. Unter Protesten erhöhte er die Steuern um 30 Prozent, um dieses Mausoleum zu bauen“, sagt unser Guide Can. Im üppig verzierten Hauptsaal des Palasts thront eine vergoldete Statue des Kaisers.Der Mechaniker hat unterdessen auf unsere E-Bikes aufgepasst. Wir satteln auf, während die anderen Ausflugsgäste in ihren klimatisierten Bussen schockgefroren werden.
Zum Mausoleum von Tu Tuc sind es sieben Kilometer – ein Klacks. Der vierte Kaiser der Dynastie, er regierte von 1847 bis 1883, nutzte die weitläufige Anlage mit Parks und Jagdgehegen als Sommerresidenz. Sein Leichnam allerdings ist hier gar nicht bestattet. „Der liegt an einem geheimen Ort“, erklärt unser Guide. „Man hatte Angst, dass Feinde, die Chinesen etwa, ihn finden und verfluchen könnten.“
Durch den Kaiserpalast bei gelegentlichen Regenschauern
Über der Stadt ziehen pechschwarze Wolken auf. War es eine Schnapsidee, in der Regenzeit mit dem E-Bike auf Tour zu gehen? Es regnet zwar nicht den ganzen Tag, aber wenn, dann richtig! Diese Regenfälle sind nicht etwa monsunartig. Sie sind Monsun!
Immerhin, unser Timing ist ausgezeichnet. Den ersten Guss des Tages hatten wir noch ausgesessen, indem wir beim Frühstück etwas bummelten. Der zweite geht über der Stadt nieder, während wir Mittagessen. Als wir fertig sind, hat sich die Lage schon beruhigt, und wir besichtigen den Kaiserpalast, bei gelegentlichen Nieselschauern.
Glitzernde Reisfelder und schmale Inseln
Wir verlassen Hue. Der Begleitlaster fährt ein gutes Stück mit unseren Rädern voran, wir im Bus hinterher. Der Reiseveranstalter will uns nicht lange Strecken über Land jagen. Vietnam ist groß, die Entfernungen zwischen den Städten ziehen sich.
Wir steigen auf die Räder, wo es wieder ländlicher ist. Fahren durch glitzernde Reisfelder, über eine Brücke auf eine schmale Insel, die sich über 20 Kilometer hinzieht. Der Strand und das Südchinesische Meer liegen auf der einen, die Lagune auf der anderen Seite.
In Xa Vinh An radeln wir unvermittelt durch eine Stadt aus bunten, aufwendig gebauten Grabstätten – ein Friedhof der reichen Leute. Vor allem Beamtenfamilien haben sich hier Denkmäler und Familiengruften gebaut.
Hinter dem Pass gibt es keine Monsunschauer
Nach einem Mittagessen direkt am Strand fahren wir Richtung Hoi An. Und das bedeutet eine Herausforderung: Auf dem Weg liegt der knapp 500 Meter hohe Wolkenpass. An einem Zipfel des Truong-Son-Gebirges bildet er die geografische Grenze zwischen Nord- und Südvietnam.
Gleichzeitig ist er eine Wetterscheide, die Überquerung wird uns weitere Monsunschauer ersparen. Vor Jahren wurde der Pass untertunnelt, was ein Vorteil ist, weil sich der Verkehr hoch oben nun in Grenzen hält. Die Passstraße, erklärt Can, werde eigentlich nur noch von Touristen und Schweinen benutzt – für Tiertransporte ist der Tunnel gesperrt.
Der Anstieg beginnt auf Meereshöhe. Der Kleinlaster des Fahrradverleihs bleibt während der Bergetappe ständig in unserer Nähe – Tour-de-France-Feeling! Der Weg schlängelt sich in langen Kurven an dichten, grünen Hängen hinauf, auf der anderen Seite immer das Meer im Blick.
Rasante Abfahrt vom Wolkenpass
Ganz ohne Anstrengung geht es allerdings nicht. Nur so zum Vergleich schalte ich mal kurz den Motor ab. Es ist, als würde mich jemand festhalten und Richtung Tal zerren. Habe ich einen Anker geworfen? Also Motor wieder an.
Am liebsten würde ich ihn auf die höchste Stufe stellen, doch der Akku ist schon fast leer. Moment: Er ist leer. Der Techniker hat keinen Ersatzakku. Aber er zieht ein voll aufgeladenes Ersatzrad aus dem Laster – die Rettung!
Auf dem Pass ist es windig und frisch. Wir sind ein wenig spät dran, bald wird es dämmern. Can warnt uns vor der Abfahrt, wir sollten die Räder nicht ungebremst bergab schießen lassen und immer die Augen nach Schlaglöchern aufhalten.
Der Weg ist steil, verläuft in langen Kurven und Serpentinen. Vor mir kriecht ein schwer beladener Sattelschlepper mit qualmenden Bremsen den Berg hinab. Nach kurzem Zögern lasse ich das Rad rollen, rase an ihm vorbei – es ist das erste Mal, dass ich mit einem Fahrrad einen Lastwagen überhole! Im Tal – alle sind vom Geschwindigkeitsrausch noch ganz entrückt – erzählt eine Mitreisende aus Hamburg, sie habe ihren ersten Laster bergauf überholt.
Unser Grüppchen übernachtet in Hoi An, einer hübschen, bei Touristen beliebten Stadt, die sich nachts mit bunten Lampions schmückt. Am Abend sind wir mal keine Radfahrer, sondern Städtetouristen.
[Dieser Artikel stammt aus dem Magazin "Tagesspiegel Radfahren 2020". Mit vielseitigen Reportagen, Service-Themen und 24 Touren zum Nachfahren. Jetzt im Handel und im Tagesspiegel-Shop für 9,80 Euro.]
An vielen Ecken stehen festlich gekleidete Paare und lassen sich von Stylistinnen betüdeln. Es sind Brautpaare. Can erklärt uns, dass es in Vietnam üblich sei, schon vor der Hochzeit ein Album mit Fotos zu erstellen – je mehr Motive und Outfits, desto besser.
Street Food in Saigon
Wir überspringen ein gutes Stück und fliegen nach Saigon, beziehungsweise nach Ho-Chi-Minh-Stadt – so der offizielle Name seit der Wiedervereinigung Vietnams im Jahr 1976. Die rund 900 Kilometer nach Süden mit dem Rad zu fahren, würde den Rahmen der Tour sprengen.
Das Fahrrad lassen wir erst einmal stehen und klappern abends mit der Vespa Street-Food-Stände ab. Allerdings fahren wir nicht selbst, sondern als Passagiere. Wir staunen vom Sozius aus, wie gelassen sich unsere Fahrer immer wieder in den flirrenden Strom einfädeln.
[Hinkommen: Regulär fliegt Vietnam Airlines über Frankfurt nach Hanoi und nach Saigon/Ho Chi Minh, von dort jeweils weiter nach Hue. Aeroflot fliegt über Moskau nach Hanoi, Turkish Airlines über Istanbul nach Saigon.
Rumkommen: 14-tägige, geführte E-Bike-Touren zwischen Hue, Saigon und dem Mekong-Delta bietet unter anderem Belvelo an. Kosten: Ab 2850 Euro ohne Flüge (mit Flügen ab 3750 Euro).
Diese Reise wurde unterstützt von Belvelo und Vietnam Airlines.]
Der Verkehr ist unübersichtlich, und das obwohl es kaum private Autos gibt – die können sich nur wenige leisten. Saigon, erklärt uns Can, hat schätzungsweise 13 Millionen Einwohner und sieben Millionen Mopeds. In das Gewimmel traut sich niemand mit dem Fahrrad.
Auf Schleichwegen durchs Mekong-Delta
Unser letzter E-Bike-Tag. Der Bus setzt uns zwei Stunden außerhalb von Saigon im Mekong-Delta ab. Im Süden Vietnams fächert sich der Fluss, der seinen Ursprung im Himalaja hat, in acht Hauptarme auf.
Die Vietnamesen nennen sie die „neun Drachen“, weil die Neun eine Glückszahl ist. Wie die Adern eines Blattes verzweigt sich der Strom in Nebenarme und Ärmchen, verbunden durch große und kleine Kanäle.
Ein Stück davon schauen wir uns vom Boot aus an. Die Wasserwege sehen aus, wie man sich den Amazonas vorstellt: Dichtes Grün am Ufer, nahezu geschlossen, hin und wieder ragt ein kleiner Steg hervor, an dem ein Boot dümpelt.
Doch die Geräusche verraten, dass dies kein Urwald ist, sondern eine dicht besiedelte Kulturlandschaft. Hinter den Palmen liegen Dörfer, Kokosplantagen und Ziegeleien, es wird gesprochen, gehämmert, Karaoke gesungen.
Warum die Komfortzone verlassen?
Eine letzte Etappe mit dem Rad. Die Wege an Land sind so verzweigt wie die auf dem Wasser. Wir biegen von der großen Uferpromenade ab ins Innere des dichten Grüns, fahren im Zickzack über Betonpisten, über bucklige, kleine Brücken zwischen Palmen und Sträuchern.
Selbst die Gärten stehen zur Hälfte unter Wasser: Die Beete, auf denen Kokospalmen, Drachenfrucht und Pfeffer wachsen, bilden Dämme zwischen schmalen Bewässerungskanälen.
Hätte man für das alles nun ein E-Bike gebraucht? Für den Wolkenpass ganz sicher. In Hue war das E-Bike praktisch, weil man bei dem schwülen Wetter entspannt vorankommt. Und im Mekong-Delta? Das hätte auch schon mit ganz normalen Leihrädern Spaß gemacht.
Aber wenn man sich einmal so schön in der Komfortzone eingewöhnt hat – warum sollte man sie wieder verlassen?
Martin Kaluza