Handball-EM 2020: Timo Kastening ist die deutsche Entdeckung der Europameisterschaft
Beim deutlichen Sieg über Weißrussland bei der Handball-EM 2020 fliegt Timo Kastening förmlich durch Wien. Im Abschluss liefert er das perfekte Spiel.
Es fehlten nur wenige Zentimeter und die Angelegenheit wäre schmerzhaft für Timo Kastening ausgegangen. Der Handball-Nationalspieler hatte in dieser 37. Minute des EM-Hauptrundenspiels gegen Weißrussland am Donnerstagabend in der Wiener Stadthalle mal wieder sein Gespür für die Situation unter Beweis gestellt, sein Näschen sozusagen.
Kastening spekulierte in der Defensive, fing einen Querpass ab, stürmte über das gesamte Feld, hob dann ab, flog, traf – und rutschte auf dem Bauch liegend so lange über den Hallenboden, dass er beinahe den Pfosten mit der Nase berührt hätte. Das Nationaltrikot erwies sich als ebenso angenehme wie zwingend notwendige Bremshilfe.
Die Szene vereinte alle Eigenschaften, die einen guten Außenspieler charakterisieren: Instinkt, Schnelligkeit, Sprungkraft, Cleverness im Abschluss und, nicht zu vergessen natürlich, einen hohen Unterhaltungsfaktor. Kastening suchte anschließend den Blickkontakt zur Auswechselbank, ballte die Faust und grinste; zahlreiche Kollegen an der Seitenlinie erwiderten die Geste, darunter auch ihr oberster Vorgesetzter: Bundestrainer Christian Prokop.
Der Wert solcher Aktionen, solch einfacher und doch schöner Treffer, ist im Handball hinlänglich belegt, weil sie auch eine psychologische Komponente bedienen: Einer rennt, fünf pausieren, alle jubeln. Aufwand und Ertrag stimmen. Kastening machte also Meter und ein Tor, während die anderen Feldspieler noch mit den Hacken am eigenen Halbkreis standen und für einen Moment durchschnaufen konnten.
Sechs Treffer bei sechs Versuchen
Der 24-Jährige aus dem niedersächsischen Stadthagen, der sein Geld beim Bundesligisten Hannover-Burgdorf verdient, ist bei der Europameisterschaft die bislang größte Entdeckung im deutschen Kader und eine der positivsten Erscheinungen überhaupt, auf und neben dem Feld. Im Gegensatz zu manch anderen Nationalspielern war Kastening von Beginn an präsent und gut drauf.
Mittlerweile scheint er regelrecht durch Wien zu fliegen: Beim 31:23-Sieg gegen Weißrussland wurde er völlig zurecht zum „Man of the Match“ ausgezeichnet, ihm gelangen sechs Treffer bei sechs Versuchen – eine perfekte Ausbeute, die der DHB-Auswahl ein für den weiteren Turnierverlauf richtungsweisendes Spiel einbrachte.
Am Samstag (20.30 Uhr, live bei ARD) entscheidet sich gegen Mitfavorit Kroatien, ob Team Germany weiter vom Halbfinal-Einzug träumen darf. Dann wird es auch wieder auf Timo Kastening ankommen, einen von fünf EM-Debütanten im deutschen Team.
Als Christian Prokop im Dezember sein Aufgebot für das Turnier bekanntgab, staunten viele nicht schlecht. Der Bundestrainer durchbrach die Hierarchie auf Rechtsaußen, wo über Jahre Patrick Groetzki und Tobias Reichmann gesetzt waren, und nominierte stattdessen das Duo Reichmann/Kastening.
Wobei es mittlerweile eher heißen muss: das Duo Kastening/Reichmann. Selbst seinem künftigen Teamkollegen bei der MT Melsungen, zu der Kastening im Sommer wechselt, hat er für den Moment den Rang abgelaufen. Reichmann durfte gegen Weißrussland erst aufs Feld, als längst alles entschieden war. Kastening ist nicht nur der Kabinen-DJ im deutschen Team, sondern aktuell auch die neue Nummer eins auf Rechtsaußen.
„Am Ende ist es nur Handball“
„Ich erlebe hier gerade eine extrem spannende Zeit, ist ja mein erstes großes Turnier“, erzählt der Linkshänder beim Medientermin im deutschen Mannschaftshotel. In diesen EM-Tagen ist er ein gefragter Mann, er wandert von Kamerateam zu Kamerateam, spricht ruhig, aber keineswegs schüchtern und macht auch mal einen Spruch, ohne dabei zu forsch zu wirken. „Die Nationalmannschaft ist natürlich eine ganz andere Liga“, sagt Kastening, „das Medieninteresse, Millionen Zuschauer zuhause am Fernsehen, das ist überhaupt kein Vergleich zum Bundesliga-Alltag.“
Zudem muss sich Kastening auch an den bei Turnieren üblichen Rhythmus gewöhnen, alle zwei Tage auf höchstem Niveau zu spielen. „Es geht gar nicht um die reine Spielzeit oder darum, dass sich der Körper anders anfühlt“, sagt er. „Aber ich bin mental ganz anders anwesend. Hier habe ich ein neues Umfeld, einen anderen Trainer als im Verein, das strengt den Kopf schon an.“
Dann gibt Kastening noch einen Satz zu Protokoll, der ganz wunderbar zu seinen furchtlosen Auftritten passt und seinen Spielstil widerspiegelt. „Ich versuche, mich nicht künstlich verrückt zu machen“, sagt er, „am Ende ist es nur Handball, das mache ich seit 15 Jahren und es macht mir einfach Spaß.“ Genau diesen Eindruck hat Kastening in den bisherigen vier Spielen der Europameisterschaft auch vermittelt.