Fußball-Nationalmannschaft: Thomas Müller: Deutschland ist nicht München
Thomas Müller ist beim FC Bayern derzeit oft nur zweite Wahl – in der Nationalelf dagegen unverzichtbar. Auch heute in der WM-Qualifikation gegen Tschechien.
Thomas Müller hat einmal erzählt, dass er für den Goldenen Schuh, den er als bester Torschütze der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 bekommen hat, ein Plätzchen auf der Fensterbank gefunden hat. Aber keine Angst, sagte er, die Trophäe sei nicht „der Mittelpunkt beim morgendlichen Gebet“. Er achte lediglich darauf, dass das güldene Etwas nicht verstaube. Vielleicht sollte er den Staubwedel mal für sich benutzen. Denn es ist ja so, dass seine Qualitäten, die ihn einst zu einem der unwiderstehlichsten Stürmer machten, für manchen unkenntlich geworden sind. „Ich weiß nicht genau, welche Qualitäten der Trainer gerade sehen will. Aber meine sind es offensichtlich nicht“, hatte Müller am Wochenende gesagt.
Sieben Jahre lang waren die Wege des Thomas Müller auf den Plätzen dieser Welt unergründlich. Vor allem die Wege ohne Ball, die ihn aber verlässlich dahin führten, wo es torgefährlich wurde. Blöd nur, dass Müller derzeit so gut wie keine Wege zu gehen hat. Sein Trainer beim FC Bayern, Carlo Ancelotti, hat ihn trotz guter Vorbereitung außen vor gelassen. Nun fragt sich die halbe Nation, welches Spiel im Süden der Republik mit dem heldenhaften Müller gespielt wird?
Vor sieben Jahren war das anders. Da spielte der damals noch weitgehend unbekannte Kerl aus Oberbayern die halbe Welt schwindelig. Bei der WM in Südafrika schoss sich Müller mit fünf Toren in die Herzen der deutschen Fußballfans. Ein Jahr zuvor hatte er noch für die zweite Mannschaft des FC Bayern in der Dritten Liga gekickt. Erst im März des WM-Jahres debütierte er in der Nationalmannschaft. Ein Vierteljahr später wurde er WM-Torschützenkönig und war damit nach Gerd Müller (1970) und Miroslav Klose (2006) erst der dritte Deutsche, dem das gelang.
Thomas Müller war damals gerade mal 20 Jahre alt, eine große Zukunft lag vor ihm. Das fand auch sein damaliger Münchner Vereinstrainer Louis van Gaal, dessen erster Leitsatz hieß: Müller spielt immer. Bei der Nationalmannschaft gilt das immer noch. „Thomas Müller wird von Beginn spielen“, sagte Bundestrainer Joachim Löw gestern. Wahrscheinlich darf der 27-Jährige die Mannschaft beim WM-Qualifikationsspiel gegen Tschechien in Prag sogar als Kapitän aufs Feld führen. Deutschland ist eben nicht München.
Mit seiner unorthodoxen Spielweise, seinen bisweilen schrulligen Laufwegen, vor allem aber mit seiner Gabe, Tore aus dem Nichts erzielen zu können, brachte er es zu einem der wertvollsten und erfolgreichsten Spieler überhaupt. Sechsmal Deutscher Meister, viermal Pokalsieger, Champions-League-Sieger 2013 und Weltmeister 2014.
Der Wind hat sich gedreht an der Säbener Straße
Im Kreis der Nationalelf wird Müller noch immer als ein Geschenk des Himmels gesehen. Feurig, aufgeweckt, witzig und unerschrocken neben dem Platz. Und erst auf dem Rasen. Müller ist immer dann unwiderstehlich, wenn er scheinbar losgelöst von systemischen Zwängen funktioniert. Nicht nur mit seiner Art Fußball zu spielen, hob er sich wohltuend ab vom großen Rest.
Und bei Bayern? Als im Sommer vor zwei Jahren Manchester United die damals noch sagenhafte Summe von 100 Millionen Euro für ihn bot, zuckten die Bayern nicht mal. „Wir müssten ja von allen guten Geistern verlassen sein, wenn wir Müller abgeben würden“, sagte der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge. In der anschließenden Saison gelangen Müller 32 Tore, allein acht davon in der Champions League. Selbst Pep Guardiola, dem es anfangs schwerfiel, Müller in sein feingliedriges System einzubinden, schuf letztlich Verwendung für den Offensivspieler.
Doch der Wind hat sich gedreht an der Säbener Straße. Im Grunde hat es sich in der vergangenen Spielzeit angedeutet. In den wichtigen Spielen stand Müller kaum noch in der Startelf. Nun aber droht er unter Ancelotti vollends zu einer Teilzeitkraft zu verkommen.
Es ist allerdings ein heikles Spiel für den Italiener. In den Zeitungen Münchens wird bereits von einer drohenden Identitätskrise geschrieben. Thomas Müller ist der letzte Bayer im Kader des Rekordmeisters. Der letzte verbliebene, der es aus der Jugend nach oben geschafft hat. Andere, die diesen Weg zurückgelegt haben, hat es in alle Winde verstreut. Philipp Lahm ist in Rente, Bastian Schweinsteiger trullert in Chicago aus und Holger Badstuber spielt neuerdings für Stuttgart.
Für Matthias Sammer, bis vor einem Jahr noch Sportvorstand beim FC Bayern, besitzt ein Spieler wie Müller neben dem sportlichen noch einen hohen Identifikationswert. Solche Spieler „dürfen eigentlich nicht infrage gestellt werden“.
Und auch Oliver Bierhoff, Manager der Nationalmannschaft, hofft, dass das dem FC Bayern alsbald bewusst werde, dass gerade wegen Spielern wie Thomas Müller die Menschen ins Stadion kämen. Für Müllers Nationalmannschaftskollegen Sami Khedira wäre es mehr als fahrlässig, einen wie Müller zu vergraulen. Für den Mann von Juventus Turin ist Müller „einzigartig im Weltfußball“, so einen „lässt man nicht gehen“.
Bisher, so berichtet Bierhoff, wirke Müller im Kreis der Nationalelf entspannt. Dieser hätte eine „gewisse Distanz“ zu diesem Thema entwickelt. Aber Bierhoff weiß auch aus eigener Vergangenheit, dass man als Stürmer „ein wenig Rückendeckung“ brauche.
Carlo Ancelotti hat sich in diesem Sommer den Spieler James Rodriguez gewünscht – und bekommen. Den Kolumbianer kennt Ancelotti aus gemeinsamen Tagen bei Real Madrid. Der Südamerikaner ist angeschlagen, wird aber demnächst spielfähig sein. Was die Aussichten Müllers eben nicht weitet. James spielt da, wo sich auch Müller sieht. Dass James derjenige war, der Müller bei der WM 2014 mit einem Treffer mehr den Goldenen Schuh wegschnappte, ist dabei zweitrangig.