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Die Ludwigsburgerin Tabea Alt hat am Schwebebalken sowohl in der Qualifikation als auch im Mehrkampf die besten Noten von den Kampfrichtern bekommen.
© AFP

Turn-WM in Kanada: Tabea Alt ist in ihrem Element

Tabea Alt überrascht die Konkurrenz bei der Turn-WM in Montreal – am Schwebebalken gilt sie sogar als Favoritin.

Als Tabea Alt klein war, war sie wie eine Maschine. Sie spulte ihre Programme ab und verlangte nach mehr, wenn ihr die Arbeit ausging. Und immer wieder, so erzählt es ihr Stuttgarter Heimtrainer Robert Mai, musste man sie bremsen, damit sie nicht zu viel macht. Dass dieses gierige Bewegungstalent irgendwann einmal die ganz große Bühne des Kunstturnens betreten würde, schien schon damals nur eine Frage der Zeit.

Die 17-Jährige ist dieser Tage im kanadischen Montreal bei ihren ersten Weltmeisterschaften der kleine Star im deutschen Team. Noch vor einem Jahr stand das Nesthäkchen der Mannschaft bei den Olympischen Spielen in Rio im Schatten der anderen. Dann gewann sie im Frühjahr überraschend die Weltcup-Serie, und bei den Europameisterschaften in Cluj empfahl sie sich im Mehrkampf wie am Schwebebalken für das Finale. Danach zog sich die Aufsteigerin erst mal zurück, verpasste die Deutschen Meisterschaften in Berlin, um ihrem Körper eine Pause zu gönnen und ihre schulische Entwicklung voranzutreiben. In der Zwischenzeit hat sie dann ganz nebenbei auch noch ihr Bewegungsrepertoire erweitert.

So überraschte Alt in der Olympiastadt von 1976 am Stufenbarren gleich mit zwei neuen Elementen, die nun unter ihrem Namen in den Internationalen Wertungsvorschriften, dem Code de Pointage, eingetragen werden. „Das ist das Größte für eine Sportlerin“, sagte sie mit leuchtenden Augen. Eine Flugvariante vom oberen Holm zum unteren, die die DDR-Auswahlturnerin Erika Zuchold einst kreierte, ergänzte Alt um eine halbe Längsachsendrehung. Während sie dieses Element lange geübt und geplant hatte, wurde das andere aus der Not geboren.

Zwei neue Elemente

Bislang hatte die Schülerin ihre Übung am Stufenbarren mit einem gestreckten Doppelsalto beendet. Doch mit dem Wachstum veränderten sich ihre Hebelverhältnisse. So tauschte sie einen Monat vor der WM den Abgang gegen einen Vorwärtssalto mit halber Schraube aus – ein gängiges Element im Turnzirkus. Nur hat Alt den Ansatz variiert. Sie leitet die Rotation mit einem Stalder, einem freien Umschwung mit gegrätschten statt gebückten Beinen, ein. Das macht den Unterschied – und die Deutsche gleich zur zweifachen Erfinderin. Bis Anfang der Woche war sie sich darüber nicht im Klaren und erfuhr erst aus einer Pressemitteilung des Weltverbandes, dass ihr Familienname noch ein weiteres Mal im Elementekatalog erscheinen wird.

Doch es gibt in Kanada für Alt noch viel mehr zu erreichen: Im Finale am Schwebebalken gilt sie am Sonntag als Favoritin auf Gold. Sowohl im Vorkampf als auch in der Mehrkampfentscheidung, die die Debütantin beim Sieg der erst 16-jährigen US-Amerikanerin Morgan Hurd nach ein paar Unsicherheiten auf dem zehnten Platz beendete, holte sich die Deutsche mit ihrer Kür die höchste Note bei den Kampfrichterinnen ab. Ihre Startposition ist günstig, das Los teilte der Qualifikationssiegerin den letzten Auftritt im Finale zu, in dem auch die Chemnitzerin Pauline Schäfer steht.

Der schmale Grat

Tabea Alt hat den Vorteil, dass sie ihre Übung sogar noch aufstocken kann, wenn es nötig ist. Im Training hat sie sich mit dem gewohnten Fleiß die nötige Flexibilität erarbeitet, um auch kurzfristig ihr Programm umstellen zu können. Um wahlweise mehr auf Risiko oder auf Sicherheit zu gehen. Mental hat sie für derartige Herausforderungen Bruno Hambüchen stark gemacht, der Onkel des Reck-Olympiasiegers Fabian Hambüchen, mit dem Alt seit einiger Zeit zusammenarbeitet. „Als Leistungssportlerin hilft einem jede Unterstützung“, sagt sie. Und dass der Kopf in der Spitze eben den Unterschied ausmache.

Nur zehn Zentimeter breit ist der schmale Grat, auf dem Alt am Sonntag vor Tausenden von Zuschauern und inmitten der die Wettkämpfe begleitenden Licht- und Animationsshow im Olympiastadion von Montreal springen, drehen und sich überschlagen wird. Lange Zeit war das den deutschen Turnerinnen nicht ganz geheuer. Sie mussten sich von der Kanadierin Carol-Angela Orchard Nachhilfe geben lassen.

Auch Tabea Alt hat davon profitiert. Sie gewann schon bei den Junioren-Europameisterschaften 2014 in Sofia Bronze. Die Aussicht darauf, dass jetzt bei der WM in Montreal noch viel mehr drin ist, könnte sie trotz ihrer bisweilen verblüffenden Abgeklärtheit und Fokussiertheit nervös werden lassen. Bundestrainerin Ulla Koch hätte nichts dagegen. Sie sagt: „Wer aufgeregt ist, der brennt.“

Katja Sturm[Montreal]

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