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Noch mehr Luftsprünge? Ornella Wahner (rechts im Bild) wurde im Herbst des vergangenen Jahres in Indien Weltmeisterin. Bei den Finals tritt sie als klare Favoritin im Federgewicht bis 57 Kilogramm an.
©  Hindustan Times/Imago

Vor den Berlin Finals: So steht es um das deutsche Boxen

Das Boxen hat seine großen Zeiten in Deutschland längst hinter sich. Doch für die Zukunft gibt es wieder Hoffnung. Für die sorgen vor allem die Frauen.

Ein Vierteljahrhundert ist es her, als das deutsche Boxen seine vielleicht größte Zeit erlebte. Bei den Spielen 1992 in Barcelona wurden Andreas Tews und Torsten May Olympiasieger, Marco Rudolph und Jan Quast holten Silber und Bronze. Deutschland war besser als die USA, nur Kuba, die Box-Nation schlechthin, war uneinholbar.

Drei Jahre später holten die deutschen Boxer bei der Heim-WM der Amateure in Berlin sogar neun Medaillen – und damit so viele wie die Kubaner. Es war auch das Jahr der Profis. Bis zu 18 Millionen Menschen sahen zu, wenn in Deutschland geboxt wurde. Jeder Fünfte. Gleich zweimal gab es den Klassiker Henry Maske gegen Graciano Rocchigiani, Gut versus Böse, Ost gegen West. Oder die WM im Schwergewicht, Axel Schulz gegen den Südafrikaner Frans Botha, die als Scherbengericht von Stuttgart in die Geschichte einging.

Das Fernsehen pumpte Unmengen von Geld ins Boxen und bekam noch mehr zurück. Erst RTL, später ARD und ZDF, die jährlich zweistellige Millionenbeträge in die beiden großen deutschen Boxställe Sauerland (Köln/Berlin) und Universum (Hamburg) schossen. Bis das Fernsehen ausstieg, retteten Boxer wie Sven Ottke, Markus Beyer, Arthur Abraham, Marco Huck und Jürgen Brähmer ein bisschen Glanz in die Nullerjahre hinüber. Letzterer hat kürzlich einen Anlauf auf den dritten WM-Titel gemacht. Mit 40! Dabei hatte er bereits als Trainer gearbeitet und den Berliner Tyron Zeuge zwischenzeitlich zum Weltmeister gemacht.

Inzwischen fließen keine TV-Millionen mehr, zuletzt probierte sich der Deutsche Tom Schwarz, 25, in Las Vegas am britischen 2,06-Meter-Hünen Tyson Fury – blamabel erfolglos. Bei Schwarz „stimmte nur die Kohle“, kritisierte Trainerlegende Ulli Wegner, 77.

„Die temporäre Schwäche des einen ist vielleicht die Chance des anderen“, sagt Michael Müller. Der 65-jährige ist seit 2010 Sportdirektor bei Deutschen Box-Verband (DBV), davor war er zwölf Jahre in gleicher Funktion beim Deutschen Ruderverband tätig. Müller denkt an die Berlin Finals, die in zehn Sportarten am kommenden Wochenende über die Bühne gehen. Die Boxer werden ihre Meisterschaften auf dem Olympiaparkgelände im historischen Kuppelsaal austragen und beginnen mit den ersten Kämpfen bereits am Dienstag.

Vor allem die Frauen überzeugen

Das deutsche Amateurboxen sieht Müller inzwischen wieder positiv aufgestellt, insbesondere bei den Frauen. Im vorigen Herbst holten bei der WM in Indien Ornella Wahner Gold und Nadine Apetz Bronze. Im Juni konnten dann auch zwei Männer bei den Europaspielen in Minsk auf sich aufmerksam machen. Sharafa Raman holte ebenso Bronze wie Superschwergewichtler Nelvie Tiafack (Köln). „Das macht uns für Tokio hoffnungsfroh“, sagt Müller.

Dort werden 2020 die Olympischen Spiele steigen. Bis vor kurzem drohte dem Boxen der Knockout. Erst kürzlich hat das Internationale Olympischen Komitee (IOC) den Weltverband der Amateurboxer, die Aiba, wegen Finanzmissbrauchs, dunkler Machenschaften und Wettkampfmanipulation suspendiert. Geboxt wird in Tokio trotzdem. Boxen ist immerhin seit 1904 olympisch und mit 203 Mitgliedsstaaten der drittgrößte Sportverband der Welt. Umso schwerer wiegen die Verfehlungen der Aiba-Funktionäre in den vergangenen Jahrzehnten.

Unter IOC-Hoheit werden nun die Qualifikationsturniere für die Boxer veranstaltet und vom Präsidenten des Internationalen Turnverbandes, dem Japaner Morinari Watanabe, organisiert. An der Zahl von 286 Athleten wird sich ebenso wie an den acht Gewichtsklassen für die Männer und den fünf für die Frauen nichts ändern. Allerdings wird der Frauenanteil deutlich erhöht: Waren bei den Spielen in Rio 2016 noch 36 Frauen am Start, sind es vier Jahre später derer 100.

Mitten drauf: Gegen Tyson Fury hatte Tom Schwarz (links) kaum eine Chance.
Mitten drauf: Gegen Tyson Fury hatte Tom Schwarz (links) kaum eine Chance.
© Mike Segar/REUTERS

„Wir begrüßen den damit hoffentlich angestoßenen Reformprozess bei der Aiba“, sagt Müller und landet bei der Spitzensportreform, die hierzulande 2016 vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und dem Innenministerium (BMI) angestoßen wurde und lange Zeit für Unruhe sorgte.

Der DBV hat sechs Kaderplätze verloren. 84 sind geblieben, die sich neuerdings in Olympiakader (früher A-Kader), Perspektivkader (früher B) und NK-1-Kader (C) auf 54 Männer und 30 Frauen aufteilen. Verblieben sind sechs von sieben Bundesleistungszentren, die im Falle des Boxens jeweils an Olympiastützpunkten gekoppelt sind. Schwerpunkt-Stützpunkte sind in Heidelberg und Schwerin, die anderen gibt es in Frankfurt/Oder, Berlin, Köln und Hannover.

Vor zwei Jahren plante der DBV mit dem Bund Deutscher Berufsboxer (BDB) eine Zusammenarbeit. „Zusammen sind wir stark“ hieß das Motto seinerzeit in Karlsruhe, man beschloss eine engere und effizientere Zusammenarbeit „um den Boxsport in Deutschland zukunftsfähig und für Fernsehsender wieder attraktiv zu machen“, wie es im gemeinsamen Statement hieß.

Orientiert hatte man sich am Beispiel Großbritanniens. Dort gibt es eine Zusammenarbeit der beiden Lager seit vielen Jahren, was inklusive einer langfristigen, finanziellen Förderung bei den Olympischen Spielen 2012 fünf Medaillen abwarf und im Profibereich WM-Titel einbrachte. Anthony Joshua beispielsweise gewann in London im Superschwergewicht Gold, 2016 wurde er Weltmeister bei den Profis und schickte 2017 Wladimir Klitschko in Rente.

Wer im Ring punktet, beschleunigt seine Einbürgerung

An ähnliche Erfolge der deutschen Partnerschaft kann Peer Mock-Stümer nicht so recht glauben. Der 52-Jährige ist Vizepräsident des Berliner Box-Verbandes und Vorsitzender der Boxabteilung von Hertha BSC. Viele Jahre arbeitete man in Berlin mit dem einst führende Profiboxstall Sauerland Event zusammen, gebracht habe es wenig. Inzwischen befindet sich der einst stolze Boxstall der Maskes, Ottkes und Co. in großen wirtschaftlichen Kalamitäten.

Fakt sei, dass sich das gesamte gesellschaftliche Umfeld in den letzten Jahren verändert habe. „Wer bringt denn heute noch die Bereitschaft mit, sich aufzuopfern für den Sport“, sagt Mock-Stümer. Das treffe auf viele olympische Sportarten zu, wo eine vernünftige wirtschaftliche Perspektive fehle. Das Boxen habe aber den Vorteil, dass „unser Sport immer stärker geprägt wird, von Athleten mit Migrationshintergrund“. Diese sähen im Boxen eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. So hat der Berliner Landesverband Zuwächse an Boxvereinen und Mitgliedern.

Der DBV trägt diesem Umstand Rechnung und öffnet sich. „Das schlägt sich bei uns krass nieder“, sagt Müller. Wer seinen Wohnsitz in Deutschland hat und Mitglied in einem deutschen Klub ist, darf hierzulande an Meisterschaften und Turnieren teilnehmen. „Für uns gelebte Glaubwürdigkeit“, sagt Sportdirektor Müller. Der DBV habe sich Integration und Gewaltpräventionen an Schulen auf die Fahnen geschrieben. Übertragen hieße das: Wer im Ring punktet, beschleunigt seine Einbürgerung. So diese angestrebt wird.

Ein Klassiker: Die Kämpfe zwischen Graciano "Rocky" Rocchigiani (links) und Henry Maske sahen in den Neunziger Jahren mehrere Millionen Menschen im TV.
Ein Klassiker: Die Kämpfe zwischen Graciano "Rocky" Rocchigiani (links) und Henry Maske sahen in den Neunziger Jahren mehrere Millionen Menschen im TV.
© Franz-Peter Tschauner/dpa

Doch der Berliner Mock-Stümer hält die Konkurrenz zwischen Amateuren und Profis für „gnadenlos“. Ablösesummen, wie sie etwa im Fußball in Form von Ausbildungsentschädigungen fließen, sind im deutschen Boxen seit Jahren nicht durchsetzbar. Heute wedele ein Boxpromoter mit ein paar Scheinen, gaukelt Zahlen vor, und schon würde manches Talent die Lager wechseln. „Wenn ein junger Mensch heute mit dem Boxen anfängt, träumt er nicht von einer olympischen Goldmedaille, sondern davon, mit einem Batman-Kostüm in den Ring zu steigen und als Profi Millionen zu verdienen“, sagt Mock-Stümer. Seiner Meinung nach liege ein Teil des Problems auch noch woanders. Mit dem Fall des eisernen Vorhangs „brach der Wettkampf der Systeme zusammen. Damit sank das Interesse der Politik an olympischen Medaillen.“

In Tokyo sollen drei Medaillen her

Was die Planungssicherheit für heutige Kaderathleten anbelangt, möchte Michael Müller teilweise widersprechen. Die Verträge mit 38 Kaderathleten „sind bis Olympia 2020 wasserdicht“. Diese Boxer könnten erst nach Tokio die Seiten wechseln. Ähnliches gilt für vier Stützpunkttrainer. Die Finanzierung des Vertrages (bis Ende 2020) für Michael Timm werde in Kürze verkündet.

Der 56 Jahre alte Timm ist Bundestrainer am Olympiastützpunkt Schwerin. Einen Sportler zum Olympiakämpfer zu entwickeln, dauert zwei Olympiazyklen, „also acht Jahre“, sagt er. Timm selbst war 1985 Europameister, zwischen 1997 und 2012 hat bei den Profis Weltmeister wie Jürgen Brähmer, Felix Sturm oder Ina Menzer geformt. Seit 2013 ist er wieder bei den Amateuren tätig. Unter ihm holte Abass Baraou 2017 WM-Bronze für Deutschland. Wichtiger war die Bronzemedaille, die sein Schützling Artem Harutyunyan bei Olympia 2016 erkämpfte. Die erste olympische Medaille für den DBV seit einer halben Ewigkeit, zwischen 2008 in Peking und 2012 London gingen die Athleten des DBV leer aus. Mit dieser Bronze-Medaille war die Zielvereinbarung mit dem DOSB gerade so erfüllt, sie sicherte dem DBV überhaupt eine weitere Förderung.

Die neue Zielvereinbarung für Tokio heißt eine bis drei Medaillen. Michael Müller ist vorsichtig optimistisch. „Unsere Boxerinnen sind echt stark“, sagt der DBV-Sportdirektor.

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