Radkolumne „Abgefahren“: Selbstoptimierung – Ein Rausch auf dem Rad
Unser Kolumnist hat eine Neigung zur Selbstoptimierung in Sachen Radfahren und Gesundheit – aber natürlich nur eine klitzeklitzekleine!
Michael Wiedersich ist Sportjournalist und Radsporttrainer. Hier schreibt er im Wechsel mit Läuferin Jeannette Hagen.
In Sachen technischer Unterstützung für Radsport und Training bin ich gerne auf dem neuesten Stand. Es gibt kaum ein Programm oder Datensammelgerät zur Selbstoptimierung, mit dem ich mich nicht schon beschäftigt habe. Doch nur die Wenigsten schaffen es am Ende bei mir zu einem Dauereinsatz. Die elektronischen Hilfsmittel, die sich meiner Aufmerksamkeit weiterhin erfreuen dürfen, sind entweder wirklich sinnvoll oder so absurd, dass es schon wieder lustig ist.
Gesundheitsfrage statt Gretchenfrage
Die Gesundheitsfrage beantworten mir morgens beim Aufstehen zwei Apps. Noch schlaftrunken halte ich den Zeigefinger auf die Kamera meines tragbaren Telefons. Auf dem Bildschirm erscheint meine aktuelle Herzfrequenz, dargestellt in Form eines EKGs (Elektrokardiogramms). Eine Minute lang misst die Software so meinen Puls. Dabei muss ich höllisch aufpassen, dass ich nicht gleich wieder einnicke und der Finger von der Linse verrutscht.
Wenn alles geklappt hat, wird mir anschließend der Ruhepuls verraten und wie viel Zeit zwischen den einzelnen Herzschlägen vergangen ist. Daraus soll man erkennen können, ob sich vielleicht eine Erkältung anbahnt oder das Training am Vortag besonders anstrengend war. Okay, man könnte sich auch auf sein Körpergefühl verlassen. Aber wer will das schon, wenn es Programme gibt, die das total objektiv beurteilen?
Noch vor dem Frühstück führt mich der Weg ins Badezimmer. Dort wartet eine Waage auf mich, die noch nicht einmal eine eigene Anzeige hat. Zur Messung brauche ich meinen Fahrradcomputer, der sich mit ihr per WLAN verbindet. Quasi als Belohnung für solche Umstände gibt es viel mehr Infos als nur die schnöde Angabe des Gewichts. Körperfett, Wasserhaushalt, Knochen- und Muskelmasse, die Waage weiß alles über mich.
Meine Lieblingsfunktion ist hier die Information zu meinem metabolischen Alter. Ganze 15 Jahre jünger macht mich dieses Wunderwerk der Technik. Dass all diese Messergebnisse physikalisch eigentlich nur in den unteren Extremitäten ermittelt worden sein können, geschenkt.
[Lesen Sie hier die vorige Radkolumne von Michael Wiedersich.]
Meine Radfahrdaten teile ich nicht nur mit einer Programm-Plattform, das dürfte jedem klar sein. Dabei ist es schon erstaunlich, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen die einzelnen Anbieter bei der Beurteilung meiner Leistungswerte kommen. Bei einer App rutschte ich zuletzt innerhalb weniger Tage von einer angeblichen Höchstform in den Zustand der Unproduktivität. Dazu wurde auch noch eine deutliche Abnahme der maximalen Sauerstoffaufnahme diagnostiziert. Dass das physiologisch kaum möglich ist, Schwamm drüber. Glücklicherweise gibt es für solche Beurteilungen Radsporttrainer.
Der neueste Schrei in Sachen Selbstkontrolle kommt aus den USA. Mit Hilfe von Bewegungssensoren überwacht man die Bewegung beim Radfahren. Ist der Sitz auf dem Sattel möglichst ruhig? Gibt es beim Tretzyklus Unterschiede zwischen dem rechten und dem linken Bein? Und wie groß ist eigentlich der Rückenwinkel, wenn man entspannt dahinradelt?
Diese drängenden Fragen beantwortet ein Steuergerät, das gleichzeitig auch als Android-Smartphone funktioniert. Ich habe es bereits ins Herz geschlossen. Wenn einem die Informationsflut nämlich doch zu viel wird, kann man sich einfach Radsport-Videos bei Youtube anschauen. Aber dann bitte unbedingt rechts ranfahren und vom Fahrrad absteigen.
Michael Wiedersich