Radkolumne „Abgefahren“: Indoorcycling – Imperiales Shuttle als Ego-Trainer
Der technische Fortschritt macht auch vor uns Radsportlern nicht halt. Trotzdem: Echte Berge und echter Wind fühlen sich immer noch anders an.
Michael Wiedersich ist Sportjournalist und Radsporttrainer. Hier schreibt er im Wechsel mit Läuferin Jeannette Hagen.
Das Thema E-Sport ist auch bei den ambitionierten Radfahrern inzwischen allgegenwärtig. Der moderne Mensch „zwiftet“, macht „Indoorcycling“, schwitzt im „pain cave“. Die Schar derer, die zuhause ihre Fitness auf dem Rennrad verbessern, steigt stetig. Wenn es draußen dunkel ist, kann man so noch seinem Hobby frönen. Und die Gefahr, von einem Autofahrer im Straßenverkehr übersehen zu werden, besteht auch nicht. In diesem Jahr soll es sogar erstmals eine virtuelle Weltmeisterschaft des Radsport-Weltverbandes UCI geben. Doch das war nicht immer so.
Rollefahren über zwei Stunden war kein Vergnügen
Damals, in der analogen Zeit, als die Winter noch lang und kalt und die Computer so groß wie Kleiderschränke waren, war das Radfahren in den vier Wänden eine eher freudbefreite Angelegenheit. Auf einem aus drei Rollen bestehenden Gestell wurde das eigene Rennrad platziert. Anschließend bedurfte es ein wenig Geschick, Überwindung und ein gutes Balancegefühl, um sich darauf dauerhaft halten zu können.
Wichtig war, auf jeden Fall zu treten, damit die Rollen in Bewegung blieben. Natürlich gab es auch eine Halterung, aber jeder, der etwas auf sich hielt, fuhr ohne dieses Hilfsmittel.
Wenn man dann endlich den Grundkurs in Sachen Rollefahren erfolgreich absolviert hatte, war ein Training über zwei Stunden oder länger kein echtes Vergnügen. Spätestens nach 15 Minuten lief der Schweiß in Strömen und die Sitzfläche stellte sich tot. Wer nicht die ganze Zeit die Wand anstarren wollte, schaltete den Fernseher an und ließ sich von Serien, Filmen oder am besten noch einer Radsport-Übertragung zu längeren Trainingseinheiten motivieren.
Das Rollefahren war neben langweilig vor allem eines, und zwar ziemlich laut. Die Melange aus dem Rollenlärm beim Treten und dem auf weit über Zimmerlautstärke eingestellten Fernseher war mitunter eine echte Härteprüfung für die Toleranzschwelle der Nachbarn. Zwischen November und Februar kam das Training auf der Rolle nur bei besonders ehrgeizigen Rennfahrern zum Einsatz.
Technischer Fortschritt macht vor Radsport nicht halt
Aber der technische Fortschritt macht natürlich auch vor uns Radsportlern nicht halt. Der letzte Schrei sind Ergo-Trainer, von denen manche an die Form eines Imperialen Shuttles aus Star Wars erinnern. Das eigene Rennrad wird dort ohne das Hinterrad eingespannt, und los geht die wilde Fahrt. Wer die Challenge sucht, fährt mit Gleichgesinnten in virtuellen Welten eine Trainingsrunde oder nimmt an Radrennen teil. Bei Steigungen wird automatisch die Bremsleistung des Berges simuliert, und wenn man über Kopfsteinpflaster fährt, merkt man ein leichtes Rütteln. Das Training ist so nicht mehr nur noch schweißtreibend, sondern auch noch fordernd geworden.
Natürlich bin ich auch mit der Zeit gegangen und nenne solche Utensilien mein Eigentum. Wenn es draußen stürmt und regnet, zieht es mich auf den Ergo-Trainer. Ausgerüstet mit Laptop, Tablet und Beamer habe ich im Wlan-optimierten Keller mein persönliches Trainingszentrum eingerichtet. Obligatorisch sind dabei auch Ventilatoren. Sie verschaffen den erhitzten Körper ein wenig Kühlung. Trotzdem: Echte Berge und echter Wind fühlen sich immer noch anders an.
Michael Wiedersich