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Sebastian Coe, 61, ist seit 2015 Präsident des Leichtathletik-Weltverbands IAAF. Der frühere Mittelstreckler war auch Organisationschef von Olympia 2012 in London.
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Leichtathletik-EM in Berlin: Sebastian Coe: „Wir brauchen harte Entscheidungen“

Sebastian Coe, der britische Präsident des Leichtathletik-Weltverbands IAAF, über Innovationen, Doping und die Laufbahn im Berliner Olympiastadion.

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Sebastian Coe, mit Olympia 2012 und der WM 2017 haben Sie London zum Herzen der Leichtathletik gemacht. Kann Berlin nach dieser EM da mithalten?

Ja, natürlich. Als ich in diesen Tagen durch die Stadt gegangen bin, hatte ich den Eindruck, das ist eine Stadt, in der die Menschen für den Sport zusammenkommen. Deutschland ist überhaupt ein fantastisches Land für Leichtathletik. Ich habe das ja schon als Athlet am eigenen Leib erfahren.

Sie sind als zweimaliger Olympiasieger über 1500 Meter oft in Deutschland gelaufen.

Als ich 21 Jahre alt war, habe ich 1977 bei der ersten Auflage des Worldcups in Düsseldorf zugeschaut. Dann bin ich 1986 bei der EM in Stuttgart gelaufen und habe zwei Medaillen gewonnen. Später war ich als Zuschauer oft hierzulande zu Gast: bei der WM 1993 in Stuttgart – übrigens eine der besten Weltmeisterschaften überhaupt –, bei der EM 2002 in München und bei der WM 2009 in Berlin. Allein das zeigt doch: Deutschland ist eines der Herzen der Leichtathletik. Und dabei spielt Berlin eine ganze besondere Rolle.Dann bin ich 1986 bei der EM in Stuttgart gelaufen. Später war ich als Zuschauer oft bei Großereignissen hierzulande zu Gast: in Stuttgart, in München und in Berlin. Allein das zeigt doch: Deutschland ist eines der Herzen der Leichtathletik. Und dabei spielt Berlin eine ganz besondere Rolle.

Warum?

Für meine Generation ist Berlin eine enorm wichtige Stadt. Der globale Moment meines Lebens war, als die Mauer fiel. Ich habe Berlin schon in den 70er Jahren besucht. Und 1988 kam ich zum ersten Mal mit einer offiziellen britischen Sportdelegation nach Berlin. Wenn ich nun sehe, wie sich die Stadt entwickelt hat, ist das sehr bewegend für mich. Berlin ist großartig. Da passt die Leichtathletik genau hin.

Die Zuschauerzahlen im Olympiastadion lagen an den Wettkampftagen in dieser Woche zwischen 30 000 und 60 000. Ist das zufriedenstellend?

Das ist ein großes Publikum für eine Leichtathletik-EM. Es ist nur etwas frustrierend zu sehen, wenn die Zuschauer in so einem großen Stadion weit verteilt auf Ober- und Unterrang sitzen. Würden all diese Fans zusammen im Unterring sitzen, würde es gleich ganz anders wirken.

Zuletzt gab es auch in Berlin Gedankenspiele, die Laufbahn aus dem Olympiastadion zu entfernen, damit es ein reines Fußballstadion wird.

Ich habe mich während der EM mit Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller getroffen. Er hat mir versichert, dass die Bahn auch in Zukunft im Olympiastadion bleiben wird. Dieses Stadion ist ikonisch, es ist ein historischer Ort. Natürlich ist manches hier etwas unkomfortabel. Aber als studierter Historiker sage ich Ihnen eines: Man baut seine Geschichte nicht um.

Bei dieser EM haben die Organisatoren viele Neuerungen gewagt, etwa den zweiten Veranstaltungsort am Breitscheidplatz. Sind das die richtigen Ansätze?

Das Kugelstoßen in der Stadt war fantastisch. Wir müssen jetzt einfach mutig sein. Ich habe die nationalen und die kontinentalen Verbände aufgefordert, mutig zu sein. Natürlich wird nicht jede Innovation sofort funktionieren. Aber ich möchte eben nicht, dass sie Angst haben, die Dinge mal anders anzugehen. Unser Sport hat sich nicht genug verändert. Unser Sport war nicht mutig genug. Wir wissen das. Aber als IAAF-Präsident kann ich es mir nicht leisten, nur auf die Spitze des Eisbergs zu schauen. Ich muss den ganzen Berg im Blick haben.

Was sehen Sie dann?

Die größten Herausforderungen sind: Wie machen wir die Leichtathletik verständlicher? Und wie machen wir sie bedeutsamer? Alle reden nur darüber, dass man unseren Sport zu einem tollen Erlebnis machen muss. Aber es kann nur ein tolles Erlebnis sein, wenn man versteht, was die Athleten und Fans wirklich wollen.

Was wollen die Sportler und die Fans?

Vor allem, dass man nicht alles auf einmal über den Haufen wirft. Wir müssen die Dinge behutsam ändern. Etwa, indem wir den Veranstaltungskalender besser anpassen. Oder, indem wir die Nationenwechsel strikter regeln. Wenn ein Athlet auf die Schnelle für ein anderes Land antreten kann, trägt das nicht dazu bei, dass unser Sport verständlicher wird. Aber es gibt noch viel mehr zu tun.

Zum Beispiel?

Auch Wettkampfvorgaben und Regularien bremsen die Leichtathletik. Viele andere Sportarten, Hockey oder Rugby zum Beispiel, haben ihre Regeln angepasst, um verständlicher zu werden. Das müssen wir auch tun.

Wie weit würden Sie denn bei den Änderungen gehen?

Wir haben ja schon einiges zur Diskussion gestellt: eine Weltrangliste oder Wettkämpfe, bei denen man im Stadion nicht immer nur auf die 400-Meter-Bahn fixiert ist – also mal eine 300-Meter-Bahn temporär in ein reines Fußballstadion legt. Aber immer wenn wir so etwas vorschlagen, reagieren besonders die Leute, von denen wir uns anhören müssen, wir seien nicht innovativ genug. Natürlich wird das Stadion immer das Zentrum unseres Sports bleiben. Aber wir müssen kreativ sein und viel mehr ausprobieren.

Wie wollen Sie das weiter vorantreiben?

In der Leichtathletik, die eigentlich aus 47 einzelnen Sportarten besteht und in der es 214 nationale Verbände gibt, kann man nicht zu strikt vorgeben, was wachsen soll und was nicht. Wenn Gehen und Marathon unglaublich populär in Japan sind, dann sollen die Japaner viele Veranstaltungen organisieren. Wenn Sprinter in der Karibik quasi mit einem Staffelstab in der Hand aufwachsen, dann lasst uns das mit passenden Wettkämpfen feiern. Wir dürfen nicht mit dem Mantra herangehen: Es gibt nur einen richtigen Weg für alle in der Leichtathletik. Das geht auch bei den Wettkampfformaten weiter.

Inwiefern?

Selbstverständlich brauchen wir mehrtägige internationale Meisterschaften in Stadien, wie die EM oder die WM. Aber wir brauchen auch starke eintägige Meetings. Die sollten am besten nur 90 Minuten oder zwei Stunden dauern. Und die sollten nicht jede einzelne Disziplin austragen. Aber dann muss man auch harte Entscheidungen treffen, wer bei solchen Meetings mal nicht antreten wird. Und diese Entscheidungen werden darum kreisen, welche Wurf- oder Laufdisziplin mal rausfliegt, welche Geschlechterkonkurrenz mal rausfliegt. Es gibt da einfach keine leichten und schnellen Lösungen.

"Die Athleten müssen etwas zu erzählen haben."

Neben Innovationen braucht die Leichtathletik auch Stars. Usain Bolt hat aufgehört, Robert Harting wird demnächst seine Karriere endgültig beenden. Wer kann ihnen nachfolgen?

Sehr viele. Ich dachte damals, dass ich ein besonderer 1500-Meter-Läufer war. Doch als ich aufhörte, kamen andere wie Hicham El Guerrouj. Niemand ist allgegenwärtig. Niemand kann seinen Sport für immer dominieren. Solche Diskussionen gab es doch im Boxen auch nach Mohamed Ali – und trotzdem kamen nach ihm wieder neue grandiose Boxer. In einem Punkt kann man wirklich sicher sein: Wir werden wieder neue Stars sehen.

Aber reicht die sportliche Leistung heutzutage aus, um ein Star zu sein? Muss man nicht auch ein guter Entertainer sein?

Nur die sportliche Leistung allein reicht nicht mehr. Ich sage Athleten immer: Usain Bolt wird eine Lücke hinterlassen. Nicht, weil es keinen anderen mehr geben wird, der bei drei Olympischen Spielen gewinnt oder Weltrekorde bricht. Sondern weil er ein Stadion ausfüllte. Weil er eine Meinung hatte und weil er ein Showman war. Es geht bei Stars immer um Leistung plus Persönlichkeit. In diesem Punkt hat auch die IAAF eine Verantwortung.

Welche genau?

Wir wollen helfen, dass jedes außergewöhnliche Talent auf eine große mediale Aufmerksamkeit vorbereitet wird. Aber die Athleten müssen auch anerkennen, dass sie Teil dieses Prozesses sind. Sie müssen etwas zu erzählen haben. Allerdings werden die Sportler darin oft auch von ihren Beratern gebremst.

Sehen Sie deutsche Athleten, die internationales Starpotenzial haben?

Genaue Namen vorherzusagen, ist schwierig. Die deutsche Leichtathletik ist jedenfalls wieder im Aufwind. Es gibt einen neuen Optimismus. Und Deutschland hat auch ein wirklich starkes Juniorenteam. Aber natürlich ist die Bedeutung der Leichtathletik hierzulande nicht mehr so groß wie zu meinen aktiven Zeiten, als Leichtathletik in Deutschland die Nummer zwei hinter Fußball war.

Als Sie 2015 Präsident der IAAF wurden, wollten Sie vor allem mehr gegen Doping unternehmen. Wie sind Sie mit diesem Vorhaben bisher vorangekommen?

Ich habe schon vor meiner Wahl zum Präsidenten gegen Doping gekämpft. Denn Doping ist ein Krebsgeschwür, es frisst die Integrität und das Vertrauen in den Sport. Als ich Präsident wurde, bekam ich es aber gleich mit sehr großen und sehr konkreten Dopingproblemen zu tun (Anm. der Redaktion: die Vorwürfe zu systematischem Doping in Russland und die Vertuschungsvorwürfe gegen den früheren IAAF-Chef Lamine Diack). Ich musste meine Position zum Doping nicht ändern, allerdings musste ich Reformen anstoßen, damit die Leichtathletik langsam wieder Vertrauen zurückgewinnen kann. All die Dinge, über die wir bisher gesprochen haben – Innovationen, neue Stars –, bringen uns nichts, wenn die Menschen uns nicht vertrauen. Wir mussten daher eine neue Basis für die Leichtathletik schaffen.

Worauf fußt die Leichtathletik nun also?

Auf zwei großen Punkten. Beim ersten geht es um die Frage: Wie treffen wir Entscheidungen, die wirksam und transparent sind und die alle nachvollziehen können? Beim zweiten geht es darum: Welche Sportler wollen wir? Nur wenn man die Antworten auf diese zwei Fragen in funktionierende Abläufe umwandelt, kann man Veränderungen bewirken. Das haben wir getan. Vor allem mit der Gründung der unabhängigen Athleten-Integritäts- Einheit.

Was tut diese Einheit genau?

Sie überprüft unter anderem völlig unabhängig von der IAAF Dopingproben und veröffentlicht auch alle positiven Dopingfälle. So transparent geht sonst kein anderer Sport vor. Ich glaube, wir haben gute Fortschritte erzielt. Haben wir noch einen Weg vor uns? Natürlich. Aber die Leichtathletik ist derzeit weniger von Doping bedroht als zu meinen aktiven Zeiten. Da wäre ein Gespräch mit dem IAAF-Präsidenten zu diesem Thema gar nicht möglich gewesen. Auch wenn es derzeit nicht immer so erscheinen mag: Wir haben jetzt ein viel besseres Umfeld, um gegen Doping zu kämpfen.

Welche Fortschritte gibt es mit Russland? Der Russische Leichtathletik-Verband ist ja weiterhin gesperrt.

Die Taskforce, die wir dazu eingerichtet haben, hat dem IAAF-Präsidium zuletzt empfohlen, die Sperre Russlands aufrechtzuhalten, obwohl Fortschritte durchaus erkennbar sind. Diesen Prozess werden wir weiter verfolgen. Es ist mein Ziel, Russlands Bann wieder aufzuheben, aber nur dann, wenn wir absolut sicher sein können, dass die Athleten aus einem dopingfreien Umfeld kommen.

Also bleibt Russlands Verband mindestens bis Dezember 2018 gesperrt?

Genau. Bei unserer nächsten IAAF-Präsidiumssitzung im Dezember werden wir wieder darüber beraten. Wir halten uns da strikt an unsere Regeln.

Auch gegen Sie gibt es Vorwürfe, Sie hätten schon früher von dem Dopingsystem in Russland gewusst, die Informationen darüber aber zurückgehalten.

Das sind falsche Anschuldigungen. Alles, was ich zu dem Thema wusste, habe ich an die Ethik-Kommission weitergegeben. Und ich möchte alle, die weitere Unklarheiten vorbringen wollen, ermuntern, dies an unsere Integritäts-Einheit und die Ethik-Kommission zu tragen. Nur so geht man am besten vor, um alles aufzuklären.

Es gibt also noch viel zu tun innerhalb der Leichtathletik. Was ist für Sie die wichtigste Baustelle?

Relevant zu bleiben für die Menschen.

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