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Huckepack genommen. Robert Harting bei der WM 2009 in Berlin.
© dpa/Hannibal

Leichtathletik-EM in Berlin: Chancen und Probleme der olympischen Kernsportart

An diesem Montag startet die Leichtathletik-EM. Sie soll der Sportart einen Schub geben. Das kann glücken, aber die Herausforderungen sind groß.

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ORTE
Das Olympiastadion ist ihnen nicht genug. Die Veranstalter der Leichtathletik-Europameisterschaften, die von diesem Montag bis kommenden Sonntag in Berlin ausgetragen werden, gehen mit einigen Wettkämpfen auch direkt in die Stadt: auf den Breitscheidplatz in der City West. Dort wird zum Auftakt die Qualifikation der Kugelstoßer stattfinden, dort werden Start und Ziel für die Marathon- und Gehwettbewerbe sein, und dort werden auch alle Siegerehrungen abgehalten. Die Organisatoren haben diesen zweiten Veranstaltungsort jedoch nicht ausgewählt, weil die Kapazitäten im bei der EM 60.000 Zuschauer fassenden Olympiastadion nicht ausreichen. Ganz im Gegenteil. Sie wollen Besucher anlocken, die gar nicht ins Stadion gehen. Der Eintritt für die temporäre Arena mit 3000 Plätzen am Breitscheidplatz ist frei.
„Wir wollen den Leuten Appetit auf mehr machen“, sagt Jürgen Kessing, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV). Im Idealfall sind die Zuschauer in der City West so angetan, dass sie sofort Tickets für die Wettkämpfe am nächsten Tag im Olympiastadion kaufen. Schließlich haben Leichtathletik-Veranstaltungen schon seit Jahrzehnten Probleme damit, die Stadien zu füllen. Darauf reagieren sie unter anderem mit Wettkämpfen in den Innenstädten, um auch das Publikum zu erreichen, das nicht so leichtathletikaffin ist. Wie etwa bei „Berlin fliegt“, bei dem Athleten vor dem Brandenburger Tor im Sprint, Stabhochsprung und Weitsprung antreten.
Doch so ungewöhnlich diese Orte und so spektakulär die Fernsehbilder davon sein mögen, zu sehr darf sich die Leichtathletik auch nicht vom klassischen Umfeld im Stadion entfernen, sonst verprellt sie die traditionsbewussten Fans – und davon gibt es noch einige. Es ist also ein schmaler Grat, auf dem sich die Veranstalter bewegen. Beim Streben nach mehr Aufmerksamkeit, mehr Zuschauern und mehr Fernsehpräsenz setzen sie deshalb noch auf andere Aspekte als nur die besonderen Örtlichkeiten. „Was die Neuerungen angeht, um die Leichtathletik zugänglicher zu machen, werden bei der EM sicher Maßstäbe gesetzt“, sagt der Sprinter Julian Reus.

NEUE FORMATE Bei den meisten Veränderungsideen in der Leichtathletik geht es den Organisatoren darum, die Wettbewerbe telegener zu gestalten, denn hohe Einschaltquoten erzielen die Fernsehsender eigentlich nur mit Fußball. Da ist der zeitliche Rahmen klar – ein Spiel dauert 90 Minuten – und auch nicht zu lang. Die Leichtathletik aber hat das Problem, dass die Veranstaltungen oft sehr lange dauern und sehr unübersichtlich sind. So finden bei Großereignissen wie Europa- oder Weltmeisterschaften stets zahllose Qualifikationsläufe statt und Wettkämpfe ziehen sich in den vielen verschiedenen Disziplinen ewig hin. Das überfordert oder langweilt viele TV-Zuschauer und Stadionbesucher – sie schalten um oder kommen erst gar nicht.

Um das zu verhindern, haben die Veranstalter der EM in Berlin besonders den Zeitplan der Abendveranstaltungen enorm gestrafft. Im Olympiastadion folgt nun meist eine Entscheidung auf die nächste. Hintereinander weg treten die Athleten um die Medaillen an. Außerdem werden am Montag im Olympiastadion quasi vorgelagert nur Vorrundenwettkämpfe stattfinden – und das bei komplett freiem Eintritt. Auch das hat es bei einer EM noch nie gegeben. Überhaupt wird überlegt, große Leichtathletik-Veranstaltungen kompakter zu gestalten. Was allerdings auch bedeuten würde, dass manch eine Disziplin vielleicht aus dem Programm fliegen könnte. So wären die Veranstaltungen zwar übersichtlicher, allerdings würde der Leichtathletik dann auch ihre Vielfalt verloren gehen. Die einzelnen Wettkämpfe für die Zuschauer sollen im Stadion zudem leichter verständlich und transparenter werden. Bei der EM soll deshalb eine neu eingeführte Laser-Linie beim Weit- und Dreisprung die jeweils aktuelle Bestweite anzeigen. Im Fernsehen gibt es diese Linien bereits. Im Berliner Olympiastadion werden die Laser-Linien etwas komplett Neues sein. Doch bei technischen Entwicklungen hören die Ideen natürlich nicht auf. Auch über neue Wettkampfformate denken die Leichtathletik-Funktionäre nach. Viel diskutiert wird besonders über Mix Auch über neue Wettkampfformate denken die Leichtathletik-Funktionäre nach. Viel diskutiert wird besonders über Mixed-Staffeln, also über Teams aus zwei Frauen und zwei Männern. Bei den Athleten sind die Meinungen zu diesem Thema gespalten. „Die Staffeln sind doch schon das Attraktivste, daran muss man nicht rumwerkeln“, sagt etwa der deutsche 100-Meter-Sprinter Julian Reus. Da ist er wieder, der Balanceakt zwischen dem Experimentieren mit neuen Formaten und der Angst, dass erfolgreiche Wettkämpfe zum Klamauk verkommen könnten. Die EM in Berlin ist da definitiv ein großer Test, wie viele Änderungen und neue Ansätze die Leichtathletik verkraften kann.

Probleme der Leichtathletik

FEHLENDE STARS
In jeder Individualsportart gilt: Wer Geld verdienen will, braucht Stars. Die Leichtathletik zehrte international in den vergangenen zehn Jahren von der Überfigur Usain Bolt. Der Jamaikaner erbrachte phänomenale Leistungen in den populärsten Disziplinen – den Sprints über 100 und 200 Meter – und war überdies eine Rampensau im besten Sinne. Bolt kokettierte mit seiner Lässigkeit, spielte mit dem Publikum. National füllte der Diskuswerfer Robert Harting diese Rolle aus. Der gebürtige Cottbuser wurde drei Mal Weltmeister, holte 2012 olympisches Gold in London. Noch interessanter wurde er für die Medienwelt dadurch, dass er den sportlichen Erfolg kombinierte mit kritischen Aussagen zum Thema Doping oder zur Verbandspolitik.
Usain Bolt hat seine Karriere im vergangenen Jahr beendet, Robert Harting wird das noch in diesem Jahr tun. Die Leichtathletik ist auf der Suche nach solchen Figuren. Gefunden hat sie noch keine. „Es wird wieder Stars geben, schon bei dieser EM“, verspricht Frank Kowalski, der Organisationschef der Wettkämpfe in Berlin. Kowalski glaubt, dass es überraschende Ergebnisse von deutschen Athleten im Sprint, Weitsprung und im Hürdenlauf geben werde. „Wir müssen uns jetzt schon darauf vorbereiten, diese Athleten auch über die EM hinaus ins Rampenlicht zu rücken“, sagt er. Man müsse um die Athleten herum Storys entwickeln. „Wir kommen mit der Performance allein in der Leichtathletik nicht mehr durch“, sagt Kowalski. Etwas überspitzt heißt das: Nicht nur die Leistung soll herausragend sein, sondern auch der Charakter – weil das Produkt Leichtathletik sonst nicht genug abwirft.
Das sind sehr ambitionierte Wünsche. Tatsächlich aber könnte es mehr als Wunschdenken sein, dass die EM Geschichten schreiben wird von erfolgreichen deutschen Athleten, die zudem interessante Charaktere sind. Zu nennen sind Athletinnen wie die Sprinterin Gina Lückenkemper, Hürdenläuferin Pamela Dutkiewicz oder die Kugelstoßerin Christina Schwanitz. Letztere zählt zu den Favoritinnen auf eine Goldmedaille, obwohl sie erst im Sommer des vergangenen Jahres Mutter von Zwillingen geworden ist. Robert Harting wird sportlich vermutlich nicht groß auftrumpfen, eher schon sein Bruder Christoph. Das viel beschriebene Bruderduell wird also medial ein letztes Mal im Fokus stehen. Ob das ein Jammer oder eine Chance ist für die deutsche Leichtathletik, wird auch von den Ergebnissen der mehr als 100 DLV-Athleten abhängen.

DOPING
Das Thema Doping verfolgt die Leichtathletik seit Jahrzehnten. Vielmehr aber muss es heißen: Die Leichtathletik bietet einen perfekten Nährboden für Dopingsünder. Zumindest war das in der Ära Lamine Diack der Fall. Der Senegalese war von 1999 bis 2015 Präsident des internationalen Leichtathletikverbandes IAAF. Diack soll Dopingfälle vertuscht haben. Mit Amtsbeginn seines Nachfolgers Sebastian Coe hat sich zumindest an der Spitze des Verbandes vieles verändert. Der Brite rief unter anderem die unabhängige Integritätskommission AIU ins Leben. Diese hilft, Doper auch nachträglich noch zu bestrafen, ihnen zum Beispiel Medaillen zu entziehen.

Außerdem verfolgt Coe einen rigiden Kurs gegen Russland, das systematisches Doping betrieb. Die IAAF verhängte in den vergangenen Jahren als einer der wenigen Fachverbände wiederholt Kollektivstrafen gegen Russland. So auch in Berlin, wo nur 30 russische Sportler unter der Flagge des europäischen Verbandes starten dürfen.

Dies alles sind zumindest öffentlichkeitswirksame Maßnahmen. Doch am Kern der Problematik ändert dies wenig. Nach wie vor gibt es kein starkes einheitliches Instrument im Kampf gegen Doping. Es sind immer noch größtenteils die Länder selbst, die die Dopingkontrollen organisieren und durchführen. Und hier gibt es große Unterschiede. In vielen afrikanischen Ländern, in China oder in Russland waren und sind die Kontrollen lax. Auch in Deutschland ist die Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada) finanziell nicht so aufgestellt, dass sie einen sauberen Sport garantieren könnte. Hinzu kommt – mehr noch in Zeiten des Gendopings – das ewige Problem dieser Thematik: Die Täter sind den Verfolgern stets mehrere Schritte voraus. Dies führte sogar dazu, dass renommierte Wissenschaftler wie der Mainzer Sportmediziner Perikles Simon sich aus dem Kampf gegen Doping zurückzogen, weil sie darin keinen Sinn mehr sahen. Daher ist eines sicher: Auch die EM in Berlin wird nicht sauber sein, unter den knapp 1600 Teilnehmern wird es Betrüger geben. Doping ist weiterhin fester Bestandteil der Leichtathletik.

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