Hertha BSC gegen Darmstadt: Sandro Wagner - Heimkehr eines neu entdeckten Helden
Bei Hertha BSC war Sandro Wagner zuletzt nicht mal zweite Wahl, in Darmstadt läuft er zu ungeahnter Form auf.
So viel Wertschätzung wie in dieser Saison haben die Fans von Hertha BSC Sandro Wagner wohl noch nie entgegengebracht. Es reicht schon, dass sein Name auf der Anzeigetafel im Olympiastadion erscheint, um eine mittelschwere Ekstase in der Ostkurve auszulösen. In der Regel passiert das, wenn Wagner mal wieder ein Tor für Darmstadt 98 erzielt hat. Man kann nur mutmaßen, ob es echte Freude ist oder doch Ausdruck von Sarkasmus: Warum trifft der Kerl jetzt in Darmstadt? Und warum hat er das nicht bei uns getan? Vor einem Dreivierteljahr hat Sandro Wagner Hertha BSC mehr oder weniger unfreiwillig verlassen – seitdem ist er im Grunde nicht mehr wiederzuerkennen.
Als der Stürmer vor einem Jahr beim englischen Zweitligisten Hull im Gespräch war, fragte ein Anhänger des Klubs, ob jetzt Stevie Wonder für das Scouting zuständig sei. Inzwischen gelten sogar Klubs aus der Premier League als potenzielle Arbeitgeber Wagners. Denn dass der Aufsteiger Darmstadt in 32 Saisonspielen noch kein einziges Mal auf einem Abstiegsplatz stand und weiter alle Chancen auf den Klassenerhalt besitzt, das ist schließlich nicht zuletzt sein Verdienst.
13 Tore hat Wagner erzielt, vier vorbereitet, damit war er an 47 Prozent aller Darmstädter Treffer dieser Saison beteiligt. Bei Hertha hat es in drei Jahren zu gerade sieben Toren gelangt. „Er passt da sehr gut rein mit seiner Spielweise“, sagt Trainer Pal Dardai vor Herthas Heimspiel gegen Darmstadt und Wagner. „Hier hat es nicht funktioniert.“ Aber mit inzwischen 28 Jahren sei es ja auch an der Zeit gewesen, „dass er mit seinem Talent was macht“. Bei Hertha hatten sie dieses Gefühl nicht mehr, weshalb Wagner im vorigen Sommer auf eine nicht besonders subtile Art zum Vereinswechsel gedrängt wurde. Er durfte nicht mit ins Trainingslager nach Österreich fahren, trainierte in dieser Zeit gemeinsam mit dem früheren Kapitän Peter Niemeyer bei der U 23. Und als die Mannschaft zurück in Berlin war, musste Wagner zum Teil für sich alleine üben und auf einem gesonderten Platz die Bälle auf ein leeres Tor schießen.
Wagner genießt in Darmstadt großes Vertrauen
In Darmstadt hat der U-21-Europameister von 2009 (unter anderem mit Manuel Neuer, Mats Hummels, Mesut Özil und Sami Khedira) vom ersten Tag an eine ganz andere Wertschätzung genossen. „Er bekommt hier das uneingeschränkte Vertrauen, macht Spiele – und die über 90 Minuten“, sagt sein Darmstädter Kollege Niemeyer, der schon in Bremen und Berlin mit Wagner zusammengespielt hat. Wagner behauptet von sich, dass er kein guter Joker sei, „in fünf oder zehn Minuten Einsatzzeit komme ich einfach nicht in ein Spiel rein“. Aber genau dafür war er bei Hertha vorgesehen. In der vergangenen Saison gehörte er kein einziges Mal zur Anfangsformation. Insgesamt hat Wagner es in seinen drei Berliner Jahren auf ganze 13 Startelfeinsätze gebracht – bei 58 Einwechslungen. „Da hieß es dann: Der Wagner hat die letzten fünf Spiele schon wieder nicht getroffen. Ja gut, in den Partien hatte ich dann vielleicht zusammengenommen 20 Minuten auf dem Platz gestanden“, hat er dem Magazin „11Freunde“ erzählt. Trotzdem gab es von ihm nie ein böses Wort über seine unbefriedigende Situation.
Herthas Fans haben immer eine Art Hassliebe zu ihm gepflegt. Sie schätzten Wagners Arbeitseifer, seinen Ehrgeiz, auch seine selbstironische Art und haben ihm sogar ein eigenes Lied (zur Melodie von Mendocino) gewidmet: „Sandro Wagner, Sandro Wagner, keiner spielt so schön wie Sandro Wagner.“ Und vielleicht war es ja auch ein Hertha-Fan, der über die sozialen Medien eine tausendfach geteilte Fotomontage in die virtuelle Welt brachte. Sie zeigt Lionel Messi, wie er sich das Trikot nach oben reißt – und den Blick auf ein Sandro-Wagner-Porträt freigibt.
Nach Müller ist Wagner bester deutscher Torschütze
Aber von einem Stürmer erwartet man eben nicht in erster Linie, dass er schön spielt – man erwartet, dass er Tore schießt. Nachdem Wagner auch in Darmstadt in den ersten fünf Spielen nur auf der Bank gesessen hatte, erzielte er bei seinem Startelfdebüt gleich seinen ersten Treffer. Seitdem hat er nur noch von Anfang an gespielt. „Er ist ein Stürmer, der sich in ein Spiel hineinarbeitet“, sagt Niemeyer. „Das kommt seinem Naturell entgegen.“
Aktuell ist Wagner hinter Thomas Müller der erfolgreichste deutsche Torschütze der Bundesliga – vor Marco Reus, Kevin Volland oder Max Kruse. „Sandro bringt von Hause aus sehr viel mit“, sagt sein Trainer Dirk Schuster. „Für mich ist er ein kompletter Stürmer, der über eine sehr gute Technik verfügt und sehr torgefährlich ist.“ Peter Niemeyer bescheinigt seinem Kollegen, dass er noch professioneller geworden ist und noch mehr in seinen Körper investiert. „Er hat wohl auch gewusst, was die Stunde geschlagen hat“, sagt er. Darmstadt war Wagners mutmaßlich letzte Chance im Profifußball, er hat sie eindrucksvoll genutzt. „Ich bin nicht neidisch“, sagt Pal Dardai über Wagners Entwicklung. „Ich bin sogar stolz.“ Wobei noch nicht klar ist, wie Sandro Wagner in Darmstadts Vereinsgeschichte eingehen wird: als der Stürmer, der den Klub mit seinen Toren in der Bundesliga gehalten hat. Oder als der Stürmer, der mit seinem verschossenen Elfmeter gegen Eintracht Frankfurt vor einer Woche den Verbleib in der Bundesliga verbaselt hat.