Ohne ihn stünde England nicht im Finale: Raheem Sterling zeigt es allen Kritikern
Lange war Raheem Sterling in England sehr unbeliebt. Doch das hat sich längst geändert – auch weil er zum Vorkämpfer beim Thema Rassismus im Sport wurde.
Es ist ja vieles denkbar dieser Tage in England. Aber zum Ritter geschlagen wird Raheem Sterling wohl nicht, wenn sein Team am Sonntag das EM-Finale gegen Italien gewinnt. Diese anachronistische Ehre dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach nur seinem Trainer Gareth Southgate zu Teil werden. Einzelne Spieler werden selten so geehrt, vor allem nicht während ihrer Karriere. Und schließlich war es auch Southgate, der dieser Mannschaft die Einheit, die Kaltschnäuzigkeit und die Geschlossenheit verlieh, die sie jetzt bis ins erste Finale seit 55 Jahren brachte.
Verdient hätte Sterling es trotzdem. Denn bei einem Turnier, in dem das Kollektiv und die Mannschaftsleistung in der Regel wichtiger als einzelne Persönlichkeiten gewesen sind, ist er einer der wenigen Ausnahmespieler gewesen. Bei aller Flexibilität und bei allem Teamgeist weiß jeder in England, dass die Three Lions ohne Sterling nicht im Finale stehen würden. „Sterling war mit Abstand unser bester Spieler bei dieser EM“, sagte der frühere England-Verteidiger Jamie Carragher zuletzt bei „Sky Sports“. Und keiner konnte ihm widersprechen. Dabei galt Sterling lange Zeit als unpopulärster Spieler Englands.
Das ist nicht mehr so. Sterling hat Englands erste drei Tore in diesem Turnier allesamt geschossen. Er war seitdem an drei weiteren Treffern direkt beteiligt, inklusive der zwei wichtigsten bei der Aufholjagd gegen Dänemark. Bei aller berechtigten Kritik wegen seiner Schwalbe am Ende jenes Halbfinals sollte man nicht vergessen, dass er erst einmal in diese Position kommen musste. Die Aktion davor war ein Paradebeispiel für seine unermüdliche Brillanz bei diesem Turnier. Nach mehr als 100 Minuten auf dem Feld war er immer noch frisch genug, um an Joakim Maehle vorbeizueilen, und die gegnerische Abwehr zum x-ten Mal bei dieser EM durcheinanderzubringen.
Sterling wehrt sich gegen Rassismus
Wenn England am Sonntag verliert, könnte Sterling trotzdem mit einer kleinen Trophäe gehen, denn er hat große Chancen, zum besten Spieler des Turniers gekürt zu werden. Wenn England gewinnt, werden sie ihren ersten Titel seit 1966 ihm zu verdanken haben. Dabei ist Sterling der lebende Beweis, dass sich England endlich von dem Fluch dieses WM-Siegs von vor einem halben Jahrhundert befreit. Denn 1966 wurde über die Jahre immer mehr zu dem Symbol einer konstruierten englischen Idylle. 1966 stand für eine schönere Zeit, als das Empire-Stadium noch stand, die Sixties am Swingen und die Fußballer alle ehrliche Arbeiter-Typen waren. Doch dieses England hat auch damals so nicht existiert, und in den Jahrzehnten danach erst recht nicht.
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Sterling ist ein Kind des echten Englands. Das Wembley-Stadion, in dessen Schatten er aufwuchs, heißt längst nicht mehr Empire-Stadion und passt mit seinen humorlosen Glaswänden und seinem übermäßigen Bogen zur reizlosen Arroganz der modernen Londoner Architektur. Das England, zu dem er und seine Mutter aus Jamaika zogen, war nicht das „green and pleasant land“ von Rittern und Romantikern.
Es war das harte, graue London von heute, in dem die Superreichen und die chronisch Benachteiligten in einer Art Zweiklassengesellschaft überall direkt nebeneinander wohnen, und trotzdem nichts miteinander zu tun haben. In einem viel zitierten Artikel für „The Players Tribune“ vor einigen Jahren erinnerte Sterling daran, wie er als Kind oft um fünf Uhr aufstand, um vor der Schule seiner Mutter bei ihrer Arbeit als Putzfrau zu helfen. Wie seine Schwester jeden Tag die drei verschiedenen Buslinien zum Training mit ihm gefahren ist.
Vielleicht deswegen schienen ihn so viele aus den wohlhabenden Grafschaften des Landes zu hassen. Weil er mit seiner reinen Existenz ihr idealisiertes Bild von England widerlegte. Oder vielleicht war es purer, latenter Rassismus. Was auch immer der Grund war, Sterling war lange der Lieblings-Prügelknabe des englischen Boulevards. Als er vom FC Liverpool zu Manchester City wechselte, wurde er als geldgierig dargestellt. Dass er ein Haus für seine Mutter gekauft hat, wurde als Charakterfehler präsentiert. Bei der letzten EM wurde er so oft ausgebuht, so extrem kritisiert, dass er sich selbst in den sozialen Medien „The Hated One“ nannte.
In den Jahren danach zeigte Sterling aber die Härte, die viele seiner Jugendtrainer ihm aktuell in Interviews mit den englischen Medien zuschreiben. Er ging den Kampf an, sprach den Rassismus an, den er von den Rängen und von der Presse erlebt hatte. Und er löste damit fast im Alleingang einen Knoten, mit dem der englische Fußball seit Jahren gekämpft hatte. Plötzlich sprachen viele im englischen Fußball offen, sogar selbstkritisch über den allgegenwärtigen, aber lange übertünchten Rassismus. Die Diskussion hat seitdem nicht aufgehört.
Southgate hielt an Sterling fest und wird belohnt
Insofern verkörpert Sterling nicht nur mit seinem Fußball das Beste an dieser Mannschaft. In den letzten Wochen haben viele behauptet, dass Southgate und seine Spieler für ein progressives, modernes England stehen. Es wäre naiv zu denken, dass sie die politische Kultur in einem zutiefst zerstrittenen Land wirklich heilen könnten. Doch Sterling – und nun auch seine Mitspieler – haben zumindest die Kultur des englischen Fußballs geändert.
Trotzdem gab es am Anfang dieses Turniers wieder kritische Stimmen, als Gareth Southgate ihn im ersten Spiel gegen Kroatien von Anfang an spielen ließ. Bei seinem Verein hatte Sterling ein kleines Formtief erlebt, und viele wollten eher einen Jadon Sancho, einen Jack Grealish oder einen Phil Foden im Angriff sehen. Aber Sterling zeigte es seinen Kritikern schon wieder. Schon nach fünf Minuten explodierte er ins Turnier, als er mit einem stechenden Lauf einen Einwurf in der englischen Hälfte zu einer hochgefährlichen Chance vor dem kroatischen Tor machte. Eine knappe Stunde später schoss er das Siegtor.
Seitdem hat er nie mehr zurückgeblickt. Mit Toren, Läufen, Spielwitz und stählerner Entschlossenheit hat er nicht nur die Dänen, sondern jeden Gegner zum Verzweifeln gebracht. Dass England am Sonntag im Finale steht, ist in erster Linie der Triumph des Kollektiven und der Kultur von Southgate. Aber es ist auch der Triumph des Raheem Sterling, der seine Kritiker endgültig zum Schweigen brachte und schon jetzt ein fußballerischer Ritter ist.