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Die englischen Nationalspieler um Kelvin Phillips und Jack Grealish wollen auch bei der EM vor Spielbeginn aufs Knie gehen.
© AFP

Kniefall der Nationalmannschaft spaltet England: Everything's political

Das englische Team ist so gut wie lange nicht. Doch vor der EM wird in dem gespaltenen Land mehr über eine antirassistische Geste der Spieler diskutiert.

Zumindest am Tag vor dem Start ins Turnier lag der Fokus auf dem Fußball. Auf den englischen Sportseiten war am Samstag vor allem zu lesen, dass Raheem Sterling am Sonntag in der Startelf stehen soll. Es wäre eine überraschende Maßnahme von Trainer Gareth Southgate, der mit Phil Foden, Jack Grealish und Jadon Sancho über eine prächtige Auswahl an ebenso talentierten wie formstärkeren Angreifern verfügt.

Und doch wäre es irgendwie richtig, wenn Sterling im Spiel gegen Kroatien am Sonntag (15 Uhr, ARD) beginnen würde. Denn der 26-jährige Flügelspieler von Manchester City steht wie kaum ein anderer Spieler für Southgates neues England. Fußballerisch ist Sterling einer der Pioniere einer neuen, selbstbewussten und angriffslustigen Nationalmannschaft. Mit Spielern wie ihm ist England wieder wer – und darf in diesem Sommer auch ohne Schmunzeln vom ersten Titel seit 1966 träumen. Doch um Fußball allein ging es in den letzten Wochen selten. In einem Land, das so polarisiert ist wie das heutige Großbritannien, geht es auch immer um Politik.

Eine neue Spielergeneration

Sterling zum Beispiel wurde am Freitag zum „Member of the Most Excellent Order of the British Empire“ ernannt, eine Auszeichnung für seinen Einsatz gegen Rassismus. Denn seit einigen Jahren ist er auch abseits des Platzes ein Aushängeschild dieser Mannschaft. Immer wieder hat er seine Stimme gegen rassistische Beleidigungen von den Rängen erhoben, immer wieder hat er die voreingenommene Berichterstattung mancher Medien kritisiert.

Damit hat er eine kleine Revolution in Gang gesetzt, die immer mehr junge englische Spieler mutiger und mündiger werden lässt. Während Tyrone Mings sich gegen Rassismus und für den Schutz von Obdachlosen einsetzt, kämpft Marcus Rashford um Schulessen für bedürftige Kinder und trifft sich per Videokonferenz mit dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. In England sind die Fußballer nicht mehr nur Fußballer, sie sind ein immer wichtigerer Teil des öffentlichen Diskurses. Wie die vergangene Woche aber auf hässliche Art und Weise gezeigt hat, ist dieser Diskurs alles andere als gesund im heutigen Großbritannien.

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Als die Nationalspieler in ihren beiden Testspielen vor Anpfiff auf die Knie gingen, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen, gab es Buhrufe der eigenen Anhänger. Es war nicht das erste Mal: Schon im FA-Cup-Finale im vergangenen Monat wurde die symbolische Geste lautstark abgelehnt von manchen auf den Rängen. Höchstwahrscheinlich wird es auch nicht das letzte Mal sein. Die Spieler haben schon betont, dass sie trotz der Buhrufe weiterhin vor jedem Gruppenspiel im heimischen Wembley-Stadion auf die Knie gehen werden.

Nun droht eine bittere Rassismus-Debatte das ganze Turnier zu überschatten. Auf der einen Seite die junge, vielfältige und mutige Mannschaft, auf der anderen die kleine, aber laute Minderheit, die eine Geste gegen Rassismus nicht tolerieren will. Helles England, dunkles England. So ist sie 2021, diese Insel. Ein unversöhnbares Land, eine völlig zersplitterte Gesellschaft, wo alle Seiten ständig aneinander vorbeireden, und dabei immer wütender werden.

Wenn die Fronten so hart sind, hilft nicht einmal die erfolgreichste Nationalmannschaft seit Jahrzehnten. Statt das Land zu einen, wird der Fußball nur zu einem weiteren Schlachtfeld eines bitteren Kulturkampfes. Auf der einen Seite die Konservativen, die lieber die Verehrung gefallener Soldaten vor einem Fußballspiel sehen würden. Auf der anderen die Liberalen, die sich ein Zeichen gegen Rassismus wünschen. Eine stetig wachsende Kluft zwischen den beiden Lagern und überall der Vorwurf, dass der Fußball doch zu sehr politisch instrumentalisiert werde.

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Dass die Versöhnung von politischer Ebene kommen könnte, ist in diesen Zeiten nicht mehr als ein frommer Wunsch. Als er vergangene Woche zum Kniefall und den Buhrufen befragt wurde, wies Premierminister Boris Johnson lediglich auf das Recht auf freie Meinungsäußerung hin. Erst am Freitag und nach heftiger Kritik forderte er die englischen Fans auf, ihre eigenen Spieler zu unterstützen. In der Zwischenzeit hatten Abgeordnete seiner Partei die Geste als „polarisierend“ beschrieben und in einem Fall sogar mit dem Hitler-Gruß verglichen. Zumindest wahlpolitisch war es für Johnson aber trotzdem kein Fehler, die Buhrufe nicht härter zu verurteilen. Sie kamen schließlich auch von seinen Wählern.

Nationaltrainer Southgate baut Brücken

Im krassen Gegensatz zu Johnsons Zynismus standen zum Glück die hehren Absichten von Gareth Southgate. Anders als der Premierminister machte der Nationaltrainer einen ernsthaften Versuch, alle Engländer hinter der Mannschaft zu vereinen. In einem sehr emotionalen offenen Brief, der auf dem Portal „The Players’ Tribune“ veröffentlicht wurde, sprach er beide Seiten an. Er schrieb zuerst von seinem Großvater, dem Zweiten Weltkrieg und seinem persönlichen Stolz, „die Queen und das Land“ zu repräsentieren. Gleichzeitig verteidigte er seine Spieler. Er verteidigte sie gegen die ständigen rassistischen Beleidigungen im Netz. Er verteidigte sie gegen den Vorwurf, unpatriotisch zu sein. Und er würdigte vor allem den Kniefall und den politischen Mut, den Sterling und die anderen damit zeigen.

„Ich habe nie geglaubt, dass es für uns nur um den Fußball gehen sollte“, schrieb der Trainer. „Ich verstehe, dass wir auf dieser Insel unsere Werte und Tradition verteidigen wollen und sollen. Aber das sollte nicht auf Kosten von Introspektion und Fortschritt passieren.“ Er klang dabei fast wie der politische und moralische Anführer, der den Briten gerade fehlt. Und wie jeder gute Politiker endete er mit einer Botschaft der Hoffnung: „Wir haben die EM nie gewonnen, und wir wollen das unbedingt tun. Glauben Sie mir.“

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Unter unmittelbarem Druck, den Titel zu gewinnen, steht Southgate zwar nicht. Mit den Erfolgen der letzten Jahre hat er sich Respekt von allen Seiten erarbeitet – und hat zumindest bis zur WM 2022 eine Jobgarantie. Sein modernes England ist auch ein unvollendetes Projekt: Trotz der vielen Talente im Angriff hat diese Mannschaft noch Schwächen. Der Trainer hat selbst zugegeben, dass sein Team sich defensiv noch steigern muss, und es gibt grundsätzlich einen Mangel an Erfahrung. Spieler wie Harry Maguire und Jordan Henderson stehen zwar im Kader, sind aber bei Weitem nicht bei 100 Prozent. Bei ihrem letzten Turnierspiel, dem WM-Halbfinale gegen Kroatien 2018, war England noch einen Tick zu unreif. Manche fürchten, dass das am Sonntag gegen denselben Gegner schon wieder der Fall sein wird.

Aber der 50-jährige Trainer, der als Spieler bei der euphorischen Heim-EM im Elfmeterschießen gegen Deutschland zur tragischen Figur wurde, sieht anscheinend eine Chance in diesem Sommer. Er will den Geist von 1996 noch einmal aufrufen, als es noch keine Buhrufe gab und alle mit einer Stimme „Football’s Coming Home“ sangen.

Es wäre ihm zu gönnen. Aber womöglich wird es ein ganz anderes Lied aus dem Jahre 1996, das in diesem Sommer zutreffen wird. „Yes, it’s fucking political“, sang die britische Punk-Band Skunk Anansie damals. „Everything’s political.“

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